»Auf Entwicklung kommt es an.«
Rahel Varnhagen
                     IV
                     
                     Im Frühling 1891 lernt 
Schnitzler einen eben erst in 
Wien aufgetauchten ungefähr gleichaltrigen jungen Schriftsteller kennen: 
Hermann Bahr. Man hört von ihm, daß er vor nunmehr acht Jahren nach einer allzu deutsch-national
                        gefärbten 
Rede, gehalten vor etwa dreitausend ihm zujubelnden Studenten, von der 
Wiener Universität relegiert worden ist, worauf er sich in 
Berlin, 
Paris, 
Spanien, Gott weiß wo noch, herumgetrieben hatte. Auf 
Schnitzler wirkt er zunächst als »
ein liebenswürdig freier Mensch, im Gesicht Rohheit, Güte, Geist, Schwindelhaftigkeit«. 
Bahr spricht entzückt über 
Schnitzlers Drama »
Das Märchen«, das 
Emanuel Reicher, Brahms stärkster Schauspieler, ihm in einem 
Linzer Hotelzimmer vordeklamiert hat; und sofort plant er eine Aufführung. Noch vor der
                        Bekanntschaft mit diesem Werk und seinem Autor hatte 
Bahr in der Zeitschrift »
Die Moderne Kunst« geschrieben: »
Arthur Schnitzler, ein geistreicher, zierlicher, sehr amüsanter Causeur, ein bischen
                           leichtsinnig in der Form, und nicht allzu gewissenhaft – vielerlei versuchend. Ich
                           habe das Gefühl, daß er tiefer ist als er sich gerne gibt und hinter seiner flotten
                           Grazie schwere Leidenschaft verbirgt, die nur noch schüchtern und schamhaft ist, weil
                           sie erst zu festen Gestalten reifen will.« 
 
                     Seiner Ansicht nach hätten die jungen 
Österreicher mehr Talent als die 
Deutschen – ihm sei zum Beispiel 
Schnitzler lieber als 
Hauptmann – aber die 
Berliner setzten sich gegenseitig in Szene, während die Wiener aufeinander schimpften. Am
                        Nichterkanntwerden gingen die 
Österreicher zugrunde. Nicht allein das; sie bewunderten nur, was aus der Fremde kommt, vor ihrer
                        eigenen Art hätten sie keinen Respekt.
 
                     Gewiß, 
Bahr wirkt sofort ermutigend; aber warum muß er, der seine Erlebnisse und Ideen oft so
                        lebendig zu formulieren versteht, neben einer Menge von unmittelbar gesehenen Dingen
                        so viel Schiefes sagen? Seine paradoxen Bemerkungen bringt er plötzlich vor, wie um seine Zuhörer absichtlich
                        zu reizen, wobei seine funkelnden Augen spöttisch blinzeln, sein 
Linzer Dialekt von noch mehr Zischlauten durchsetzt ist als gewöhnlich. Begegnungen voll
                        schwankender Sympathie  .  .  .  denn 
Schnitzler verhehlt es durchaus nicht, daß 
Bahr ihn zuweilen ungeduldig macht.
 
                     Eines Abends, in lustiger Gesellschaft, wird allgemein Bruderschaft getrunken; und 
Schnitzler, sonst immer auf gemessene Entfernung bedacht, kann sich dies eine Mal nicht entziehen.
                        Das war wohl die Ursache, daß er in späteren Jahren jedes freundliche Angebot auf
                        Bruderschaft immer wieder mit der Bemerkung ablehnte, er sei nur eines Menschen Duzbruder
                        geworden, und den hätte er zu jener Zeit nicht leiden können. Und wirklich: im Kreis
                        der Freunde ist es in all den vielen Jahren nie mehr zu solcher Verletzung der Distanz
                        gekommen. Nichts ist ihrer mißtrauischen Empfindlichkeit so zuwider wie die fälschende
                        Allüre der Nähe, die sich mit Anblinzeln, Zuruf, Schulterklopfen anbiedern will, während
                        darunter ein ganzer Abgrund von Beziehungslosigkeit gähnt. Die öde Kumpanei im Kreis
                        von Zufallspartnern kann ihnen nicht mehr Vortäuschen als sie ist, und echtes Einverständnis
                        stellt sich am ehesten auf der soliden Basis bewußter Einsamkeit her. Vollends dieser
                        
Bahr: nachdem er stundenlang seine glänzende ironische mutwillige Beredsamkeit entfaltet
                        hat, steht er auf, geht weg, nimmt sich so leicht und restlos zurück, daß man nie
                        recht weiß, wozu er wirklich steht, woran er hängt, wo er wurzelt.
 
                     Es ist auch wenig Verlaß auf seine kritischen Maßstäbe. Sein Temperament, dem Wogen
                        eigener Gedanken und Empfindungen preisgegeben, scheint von jedem neuen Eindruck wahllos
                        hingerissen. Einen harmlosen Dilettanten, der gleich unbeträchtlich malt, dichtet
                        und komponiert, nennt er »den verschwenderischen Meister dreier Künste« – jeder sich neu gebärdenden Erscheinung geht er mit Fanfarenstößen voran.
                     Einmal betritt er gemeinsam mit 
Schnitzler und 
Beer-Hofmann den 
großen Saal des Künstlerhauses. Von weitem bemerkt 
Schnitzler ein Bild, das zunächst durch seine grellen blaugrünen Farben auffällt. »Das wird
                        dem 
Bahr sicher gefallen«, sagt 
Schnitzler zu 
Beer-Hofmann. Und wirklich, schon ist Hermann 
Bahr auf dieses Bild zugegangen, und davor stehend sagt er mit dem herausfordernden Ton,
                        den er immer hat, wenn er etwas Neuartiges durchsetzen will: »Also das ist das Bedeutendste,
                        was seit zehn Jahren gemalt worden ist.«
 
                     Damit schien seine eigene Einstellung weit mehr als das Bild charakterisiert, denn auf jeden Fall war er in revolutionärem Widersprach zum Althergebrachten
                        zu finden, immer in der fechterischen Stellung des Raufbolds, und das bis zu einem
                        Ausmaß, mit dem er nicht nur seine konservativen Leser verblüfft, sondern auch seine
                        Freunde ärgert und reizt.
                     »
Die Schmetterlingsschlacht« von 
Hermann Sudermann, dem erfolgreichsten Theatraliker seiner Zeit, wird im 
Burgtheater zum erstenmal aufgeführt – den Freunden erscheint sie als ein schwaches Stück. Nur
                        
Bahr – in welche Regionen mochte ihn seine eigene Phantasie, seine innere Erlebniskraft
                        an jenem Abend getragen haben! – lobt »
Die Schmetterlingsschlacht« über die Maßen, zieht sie allen Stücken der letzten Jahre vor und erklärt, man 
gehe mit einer philosophischen Heiterkeit heim, die keinen Groll mehr gegen die Welt
                        erlaubt und Mut gibt, das Leben zu bestehen. Erbittert über so viel Unverhältnismäßigkeit sagt ihm 
Gustav Schwarzkopf, einer aus dem Kreis der Freunde, den man wegen seiner unbestechlich-klugen Urteile
                        schätzt, in seinem suffisanten Ton: »
Woher nähmen Sie denn das Material zu Ihren Kritiken, wenn Sie nicht das genaue Gegenteil
                        von allen andern sagten?« Diesen 
Schwarzkopf – 
Loris nennt ihn »
einen der besten und unangenehmsten Menschen« – betrachtet 
Bahr als seinen Widersacher, und er haßt ihn aus tiefster Seele.
 
                     Wie sollte er auch einen solchen Menschen ertragen können, einen nüchternen Skeptiker,
                        der nur eine Sorge hat: sich an nichts zu verlieren, auf nichts hineinzufallen, weder
                        auf Gott noch auf die sogenannte Liebe, noch auf den Frühling, von dem sich die Leute
                        jedes Jahr aufs neue düpieren lassen, noch auf die Historie. Was gilt ihm ein Wahrheitsfanatiker,
                        dem sich jede lebendige Wahrheit entzieht, was soll ihm diese hochmütige Selbstbewahrung
                        ohne Impuls und ohne Auftrieb, was geht ihn dieser Mensch an, der unbewegt, wie mit
                        blinden Augen in eine entseelte Welt starrt, ein Wesen, in dem kein Bekennen ist und
                        keine Schuld, weil er nie hingerissen den ganzen Einsatz wagt?! So sehr ist 
Bahr von Widerstand erfüllt, daß er aufbraust, als 
Schnitzler die anständige Gesinnung 
Schwarzkopfs rühmend hervorhebt. Wertlos sei diese feige blutarme Korrektheit; ein wahrer lebendiger
                        Mensch hätte tausendmal mehr recht, selbst wenn er einmal irre, als der mit seiner
                        platten Rechthaberei!  .  .  .  »
und wenn nächstens der 
Burckhard was schlecht macht« – denn an dem Leiter des 
Burgtheaters nörgelt 
Schwarzkopf besonders herum wie an jeder echten Natur – »so lob’ ich ihn justament, das wirst
                        du sehen, nur um den 
Schwarzkopf zu ärgern!« – »Und du willst ein Kritiker sein?« erwidert 
Schnitzler. »Du begnügst dich eben damit, eine Individualität zu sein« – und nun wirft er ihm
                        alles vor, was er gegen ihn auf dem Herzen hat: seine Ungerechtigkeit, den Hang, die
                        Wahrheit unbedenklich jeder momentanen Stimmung, jeder Sympathie und Antipathie oder
                        einfach nur dem Rhythmus eines Satzes aufzuopfern. 
Bahr gesteht ihm darauf hin zu, er sei von der ewigen Angst gequält, langweilig zu werden.
 
                     Diese Angst ist unbegründet, denn langweilig ist er wirklich nicht. Er sagt den Leuten
                        regelmäßig, was sie zu hören nicht geneigt sind, er schreibt in brillanten unkonventionellen
                        Wendungen, respektlos sarkastisch gegen alles anerkannt Ehrwürdige, enthusiastisch
                        von allem Ungewohnten. Aufstöbemd und unbequem ist er auf jeden Fall.
                     Im übrigen ist er ein hinreißender Redner; und man merkt, wie gerne er bei offiziellen
                        Gelegenheiten das Wort ergreift. Schon seine Art, sich zu erheben, die freie Haltung
                        seiner breiten Schultern, der behaglich-humorvolle Dialekt, in dem er anhebt, gewinnt
                        ihm freudige Zustimmung; und es ist viel mehr das Wie als das, was er sagt, womit
                        er Wärme, Sicherheit, gehobene Laune um sich verbreitet.
                     Er hat es später selbst gestanden: alles beweisen können und an nichts glauben – das
                        ist die sophistische Form, in der er zunächst der Welt gegenübersteht. Die Freude
                        am Bau des wohlgefügten Satzes verführt ihn. Das Wort in seiner Schnellkraft und in
                        seinem Glanz hat er mit gefährlicher Gewandtheit gebrauchen gelernt. Nur daß es ihn
                        allzu oft auf seine rauschenden Flügel nimmt und ihn in Gegenden versetzt, die er
                        sich nicht zum Ziel genommen, das kann passieren. Auch hat er längst herausgefunden,
                        daß es sich »
um recht zu behalten, keineswegs darum handelt, im Recht zu sein«. Vorläufig genügt es ihm, recht zu behalten. Das Ungenügen an der peripherischen
                        Wirkung des Wortes stellt sich erst allmählich ein. Langsam dämmert die Ahnung herauf,
                        daß das Wort etwas »
über allen Beweisen Wahres, eine wirkliche Wahrheit« zu verkünden hat. Aber dahin führt ein langer Weg. An seinem Beginn steht Eitelkeit,
                        an seinem Ende das Gewissen.
 
                     Im Jahre 1893 reist er in der Welt herum und befragt einige bedeutende, berühmte Männer über das
                        Wesen des eben heftig aufflammenden Antisemitismus. Erst ist er in 
Deutschland bei 
Theodor Mommsen; der nennt den 
Antisemitismus die Gesinnung der Kanaille. Er spricht mit 
Franzosen, 
Engländern, 
Spaniern über die Frage und erhält von 
Henrik Ibsen die lakonische Auskunft, er könne über den Antisemitismus nichts sagen, weil die
                        ganze Bewegung ihm völlig unverständlich und unbegreiflich sei.
 
                     Im Jahre 1895 wagt es Direktor 
Burckhard, »
Liebelei«, das volkstümliche Werk eines fast unbekannten Autors, zur Uraufführung im 
Burgtheater anzunehmen.
 
                     Als erster Einfall hieß das Schauspiel »
Das arme Mädel« – und der Stoff hatte verschiedene Wandlungen und Fassungen durchlaufen; begonnen
                        im Spätherbst 1893, langsam reifend, bis die letzte endgültige Form im Oktober 1894 in zweiundzwanzig Tagen abgeschlossen wurde. Die Schrift der letzten Szenen zeigt
                        die Bewegtheit des Schreibenden. Er hat mir gestanden, daß er geweint hat.
 
                     Noch vor der Premiere liest 
Bahr das Manuskript. Er stellt keine günstige 
Prognose. Das Stück sei zwar literarisch sehr gut und bühnenwirksam, aber einen Kassenerfolg
                        werde es nicht erzielen. Die Kritik werde es loben, der ärgste Feind könne daran nichts
                        aussetzen, aber auch der enthusiastischeste Freund werde nicht sagen: ein Prophet
                        sei erstanden.
 
                     Die 
Burgtheateraufführung brachte der »
Liebelei« den Erfolg, von dem es hieß, ihr Autor sei über Nacht berühmt geworden. 
Bahr schreibt eine Kritik voll absichtlichen Widerstandes, spricht von der »
mehr feuilletonistischen als dramatischen Anmut  .  .  .  eine saubere, anständige und brave Arbeit«.
 
                     »
Passen S’ auf«, sagt er zu 
Loris, »so wie 
Schnitzler bisher ›der Dichter des süßen Mädels‹ war, so wird er jetzt den berühmten Dichter
                        posieren.« 
 
                     »Eine Ihrer Negationen, von denen Sie schon zurückkommen werden«, entgegnet ihm 
Loris, »denn jetzt ist er’s.« 
 
                     Wenige Wochen darauf meldet 
Bahr seinen Besuch bei 
Schnitzler an. Nach allerlei Umwegen und Vorwänden des Gesprächs geht er auf das eigentliche
                        Thema los: er gebe es zu, sein Urteil schwanke 
Schnitzler gegenüber, und gleich darauf, nach kurzer Überwindung, stößt er heraus: »
Ich weiß ja ganz gut, daß ich mich geirrt habe. Ich hab’ es auch dem 
Burckhard schon vor deiner Premiere angekündigt: ich muß zwei Feuilletons über die ›
Liebelei‹ schreiben; eins, wenn sie durchfällt, wo ich dich justament riesig lob’, und eins,
                        wenn sie gefällt, in dem ich mich mit dir scharf auseinandersetze.« 
 
                     Schnitzler lacht überwältigt: »Das nenn’ ich Sachlichkeit!«, während 
Bahr lebhaft fortfährt: »Vergiß nicht, ich bin eine Propagandanatur. Ich muß die Dinge
                        korrigieren, wie sie mir in meinen Plan passen. Mir haben’s ja die Leute sofort gesagt,
                        daß uns dieses wenig ermutigende Feuilleton auf immer auseinander bringen wird. Aber
                        das schien mir unwahrscheinlich, denn ich kenne dich. Vielleicht« – und sein Blick gleitet zur Seite – »sind wir nur so niederträchtig gegeneinander, weil wir
                        der gleichen Generation angehören.« 
 
                     Ende März 1896 ist 
Schnitzler bei 
Bahr: ein Krankenbesuch. 
Bahr ist im Duell verwundet worden. Er hat sich an Stelle eines jüdischen 
Herausgebers der Tageszeitung »
Die Zeit« geschlagen, der von irgendeinem provokatorischen 
Subjekt herausgefordert worden war. Die Juden waren nämlich soeben von den wehrhaften deutschnationalen
                        Studenten für satisfaktionsunfähig erklärt worden, und nun dachten diese, ihre Beleidigungen
                        bei jeder Gelegenheit ungestraft austeilen zu dürfen. Diesem sogenannten Waidhofener
                        Beschluß begegnete 
Bahr, der Sohn einer streng katholischen 
Linzer Notarsfamilie, auf seine resolute Weise, indem er die Beleidigung auf sich nahm.
                        Erstaunlicher Vorfall: 
Bahr ist also nicht nur der Verkünder oft zweifelhafter Werte – an die er bald gar nicht
                        mehr glaubt – er begibt sich selbst in Gefahr, wo es eine wahre menschliche Stellungnahme,
                        eine echte Gesinnung zu verfechten gilt. Zum erstenmal empfindet 
Schnitzler wirkliche 
Sympathie für ihn; von seinem Krankenlager fortgehend, überlegt er, ob er ihm nicht
                        doch manchmal Unrecht getan hat.
 
                     Nur langsam und zögernd entwickeln sich ihre Beziehungen, fast unmerkbar stellt ein
                        Kontakt sich her. 
Bahr versucht als Redakteur der Wochenschrift »
Die Zeit« immer wieder, 
Schnitzler als Mitarbeiter zu gewinnen. Im November 1897 liest er die Novelle »
Die Toten schweigen« öffentlich vor. Im November 1900 schreibt er in plötzlichem Impuls: »
Mit Dir nächstens einmal reden zu können verlangt mich sehr, um Dir zu sagen, wie
                        menschlich tief mich Deine ›
Beatrice‹ berührt hat: sie ist mir weitaus das Liebste was Du noch geschaffen und hat mich
                        völlig zu Dir hingerissen.« 
 
                     Bald darauf ist 
Schnitzlers Novelle »
Leutnant Gustl«, die er in der glücklichen Stimmung der 
Reichenauer Sommerwochen 1900 geschrieben hatte, zu Weihnachten in der 
Neuen Freien Presse erschienen. Ein denunziatorischer Artikel der Tageszeitung »
Die Reichswehr« macht militärische Kreise darauf aufmerksam, daß 
Schnitzler in dieser 
Novelle die Ehre und das Ansehen der Armee geschädigt und herabgesetzt habe. Eine ehrenrätliche
                        Untersuchung wird gegen ihn in Gang gesetzt, 
Schnitzler wird aufgefordert, sich vor diesem Ehrenrat zu rechtfertigen. Er hat einen Freund,
                        der ihm zur Seite steht und dessen Ratschläge er befolgt: 
Max Burckhard, jetzt Hofrat beim 
Verwaltungsgerichtshof, widerrät seinem Freunde 
Schnitzler auf das entschiedenste, der Vorladung Folge zu leisten und damit einer militärischen
                        Behörde irgendeine Kompetenz in literarischen Fragen zuzubilligen.
 
                     Der Sommer kommt – an einem heiteren Junimorgen sitzt 
Schnitzler beim Frühstück auf einer 
Salzburger Kaffeehausterrasse; eine 
Wiener Zeitung öffnend, liest er erstaunt seinen Namen zu Beginn des Leitartikels. So erfährt
                        er, daß der Ehrenrat ihm sein Offizierspatent genommen und ihn degradiert hat. Was
                        nun folgt, ist eine Flut von Für und Wider in in- und ausländischen Zeitungen: »
Leutnant Gustl« wird abwechselnd »
das Schunderzeugnis dieses Juden« und »
ein Hauptbeweis dichterischer Genialität« genannt. 
Schnitzler hat nun ausreichende Gelegenheit, über das Kapitel nachzudenken: Wie kommt ein Urteil
                        zustande? 
 
                     Unter den vielen freundlichen Briefen, die kommen – auch von 
österreichischen Offizieren sind welche darunter – ist einer von 
Hermann Bahr: 
 
                     »
Lieber 
Arthur! Ich denke mir zwar, daß Du die lächerliche Entscheidung Deiner ›Affäre‹ mit der
                        ruhigen Verachtung hingenommen haben wirst, die sie verdient, möchte Dir aber doch
                        aussprechen, wie stark ich gerade bei diesem Anlaß meine Sympathie für Dich gespürt,
                        und wie ich mich geschämt habe, in einem so grenzenlos albernen Lande zu leben, wo
                        die Feigheit der Menschen beinahe noch größer ist als ihr Neid. Pfui Teufel! Und alles
                        Gerede von ›Kultur‹ und so weiter kommt mir unsagbar dumm vor. Herzlichst grüßt Dich
                        Dein alter 
Hermann Bahr.« 
 
                     Schnitzler dankt ihm mit Wärme: » .  .  .  
laß mich bei dieser Gelegenheit auch einmal sagen, wie sehr es mich freut, daß wir
                        Beide über die zeitweiligen Entfremdungen hinaus sind, die ja wahrscheinlich bei manchen
                        Naturen, wie den unsern, entwicklungsphysiologisch bedingt und daher notwendig sind.
                        (Du siehst, ich bin immer ›wissenschaftlich.‹) Nun ist das Alter der Mißverständnisse
                        wohl endgültig für uns vorbei und wir sind so weit, daß wir einander – vielleicht
                        auch ein bischen um unserer Fehler willen – Freunde sein und bleiben dürfen.« 
 
                     Zehn Jahr mußten vergehen, ehe dieser Ton gegenseitigen Einverständnisses zwischen
                        den beiden aufklingen konnte, die Zeit von dreißig bis vierzig, Mannesjahre voll rätselhaft-geheimer
                        Formung des eigenen Ich bis zu dem entscheidenden Schritt in die Gestaltung der Umwelt.
                        So verschieden ihre Naturen auf diese Umwelt reagieren mußten – eins war gemeinsam
                        in ihnen: ihre kritische Liebe zu 
Wien. Nicht umsonst ist 
Wien die Stadt der Musik – einer bestimmten Art des Musizierens. Wo es sich triebhaft
                        auflösen kann, dem sinnlich-schönen Klang schwelgerisch hingegeben, fortgeschwemmt
                        und bewußtlos gemacht in einer fast weiblichen Gebärde – da ist 
Wien empfänglich und dankbar wie keine zweite Stadt der Welt. Reiz für den flüchtigen Augenblick,
                        Opiat gegen die matte Wirklichkeit, Zerstreuung an Stelle der Sammlung – so will Musik,
                        so will alle Kunst hier verstanden sein. Was ihr in dieser Stadt verwehrt ist: ihre
                        wahre Sendung – formendes Element zu sein, umbildender Griff in seelisch-geistiges
                        Gebiet. Weiter als ins Bereich der Emotionen darf sie nicht dringen – hier schlagen
                        Türen zu.
 
                     Nur in einer mittleren Sphäre will diese Stadt genießen und leben – und darin ist
                        sie meisterhaft ausbalanciert. Was darüber hinausweist, ins Göttliche oder Dämonische
                        reicht, erschreckt sie bis ins Mark. Was ist es, das sie fürchtet? Nicht aufwachen,
                        nicht innewerden, nicht klar sein! Das 
Hebbel-Wort: »
Oh rühr nicht an den Schlaf der Welt« – nur in 
Wien konnte es aufkeimen.
 
                     Mit müden Augen, die viel Wechselvolles gesehen haben, schaut diese Stadt den Lauf
                        der Zeiten – ihr ist nichts so gut und nichts so schlimm, als daß es nicht mit Gleichmut
                        ertragen werden könnte. Im schönen Augenblick das umflorte Wissen um seine Vergänglichkeit
                        – im Dulden das gelassene »was kannst machen?!« – das ist ihre Form von Widerstand;
                        das eigene Elend löst sich in Selbstironie, alles Pathos in Parodie auf, und die Skepsis
                        ist umglänzt von mildem Schimmer altersmüder Weisheit.
»
Ich fange an, je mehr ich meine Leidenschaft jetzt der Kultur unseres Vaterlandes
                              zuwende, immer mehr zu vermuten, daß für die Größe einer Zeit und die Schönheit ihrer
                              Menschen im Scheinen und im Sein die ›großen Werke‹ garnicht so wichtig sind, als
                              wir zuerst meinten, sondern daß wir lieber für unsere tägliche Umgebung sorgen sollten .  .  .  Dies ist es, was wir zu tun haben: lasset uns den allgemeinen ästhetischen Wohlstand
                              unseres armen Landes vermehren .  .  .  
wenn ich eine Neigung für einen Menschen oder eine Sache habe und nun erkenne, was
                              an ihm oder an ihr schlecht ist, meine ich doch: dann eben brauchen sie mich erst
                              recht. Unerbittlich findet mich nur, wer nach seinem Wesen besser sein könnte, als
                              er aus Dünkel, Schwäche oder Verlogenheit ist .  .  . «
 
                     Diese Worte 
Bahrs zeigen den Antrieb seines Wesens, der ihn veranlaßt zu wecken, zu mahnen, zu wachen:
                        weil er fördern will. Und sagt die 
Duse ihm einmal: »
Aber Sie! Sie sind doch gar kein Kritiker – Sie sind unser guter Kamerad!«, so macht ihn das stolz, denn das ist alles, was er sein will.
Am 15. Mai 1902, an seinem vierzigsten Geburtstag, erhält 
Schnitzler einen wunderschönen Strauß Rosen und dazu diesen Brief: »
Du bist enttäuscht, lieber Arthur, da Du geöffnet hast und siehst, daß diese Blumen,
                        statt von einem Weibchen, nur von mir sind. Aber sie sollen Dir halt heute, wo Du
                        ankommst 
nel mezzo del camin di nostra vita, einmal sagen, daß ich Dich sehr gern habe und über unser gut und fest gewordenes
                        Verhältnis froh bin und meine, es könne, was immer noch das Schicksal zwischen uns
                        werfen mag, doch eigentlich im Grunde niemals mehr wankend werden. Und mir ist, frühere
                        Dinge jetzt erst zu verstehen, und ich rede mir ein zu meinen, daß was ich einst gegen
                        Dich empfunden habe, vielleicht auch nur eine freundschaftliche Ungeduld gewesen sein
                        mag, den zu lange bei seiner Jugend Verweilenden schneller männlich werden zu sehen.
                        In meinem Verhältnis zur 
Duse weiß ich jetzt ganz gewiß, daß die unbegreifliche Wut, die ich nach meiner ersten
                        Begeisterung plötzlich auf sie hatte, genau mit ihrer innern Krise zusammenfiel, aus
                        welcher sie verwandelt emporstieg. Wäre ich 
d’Annunzio und würde ich stilisieren, so würde ich sagen: Ich bin der Ehrgeiz meiner Freunde .  .  . «
Am 17. August 1797 schrieb 
Schiller an 
Goethe:
 
                     
                     Als ein Genius oder ein Gespenst müsse ihnen die Poesie gegenübertreten, setzt er
                        noch hinzu.
                     Und der ganz alte 
Goethe spricht 
Eckermann gegenüber aus, er sehe eine 
barbarische Zeit heraufkommen. Denn was sei die Barbarei anderes, als daß die Leute
                        das Vortreffliche nicht anerkennen  .  .  . 
 
                     Nun, daß sie inkommodiert werden, sich ihrer platten Behaglichkeit nicht gar zu sehr
                        erfreuen dürfen, darüber wacht um die Wende des Jahrhunderts in 
Wien Hermann Bahr. Die helle Wut packt ihn, wenn die Menge nichts anderes mehr sehen will als seichten
                        Zeitvertreib, Zerstreuung und Entspannung für matte Hirne sucht nach der Mühsal des
                        Erwerbs. Letzter und tiefster Ernst ist ihm die Kunst – der innerste heilige Raum,
                        in dem der Mensch sich selbst gegenübertritt und sich so rein begegnet, wie ihn die
                        Hand der Gottheit in die Welt gestellt hat. Er ist da angelangt, wo er vom Künstler wie von Empfangenden das gleiche
                        Verhalten dem Sittlichen gegenüber fordern muß. Ein Künstler kann, in seinem Sinn,
                        nur einer sein, der sich fähig fühlt, den Menschen Glück zu bringen, indem er ihnen
                        hilft, schöner und besser zu werden. »
Wenn nun aber das Verhältnis der Menschen zur Kunst so entartet ist, daß sie ganz
                           verlernt haben, das Kunstwerk auf sich selbst zu beziehen und es in ihr Sein und Tun
                           aufzunehmen, dann ist in solcher Zeit der Künstler um seine Kunst betrogen. Wenn das
                           Kunstwerk seinen eigentlichen Sinn, dem Leben ein Beispiel zu geben, verliert, dann
                           bleibt dem Künstler, eben um ein Künstler zu sein, nichts übrig, als dieses Beispiel
                           unmittelbar durch sein Leben zu geben. Denn dem Künstler ist sein Kunstwerk nur so
                           viel wert, wie davon im Sein und Tun der Menschen lebendig wird. Hat das Kunstwerk
                           in unserer Zeit diese Kraft nicht mehr, so wird sich der Künstler ein anderes Mittel
                           suchen müssen: die Rede von Mann zu Mann, die Wirkung durch seine lebendige Gegenwart
                           oder aber in seiner höchsten Not irgend eine die Menschheit aufschreckende Tat, wie
                           es Tolstois Flucht und sein erhabener Tod war.« 
 
                     Wer Maßstäbe aufstellt, muß das Äußerste auch von sich selbst fordern. »
Sind wir nichts anderes, so sind wir doch ein Beispiel«, heißt es bei 
Schnitzler.
 
                     Im »
Dialog vom Marsyas« kommt der Meister nach weitem Umweg auf das rechte Gleichgewicht der Dinge zwischen
                        Kunst und Leben. »
Am Ende kommt’s doch immer nur darauf an«, sagt er, »daß Einer wisse, welche Hitze
                              er vertragen kann.« 
Goethe habe gewußt, daß ihn der tragische Grad zerstören würde. »
Darum hat er sich enthalten, instinktiv gewarnt, wie denn die Natur uns immer ein
                              Zeichen gibt, wenn sie sich bedroht fühlt. Ein solches Signal ist die Grimasse, die
                              den Menschen, das Volk verzerrt, wenn sie sich zu Werken oder Taten, welche ihnen
                              nicht gemäß sind, übernehmen wollen. Seht ihr ein Werk oder eine Tat um den Preis
                              der Grimasse erkauft, so ist es immer ein Zeichen, daß der Täter daran ist, sich zu
                              zerstören. Glaubt doch nicht, daß die Menschen die Schönheit lieben weil sie gefällt,
                              – sie ist mehr als eine Lust der Sinne. Sie ist unser höchstes Gesetz, denn sie ist
                              unser Maß, das zeigt, wie weit wir dürfen.«
Zu Beginn des Jahres 1903 erscheint 
Bahr bei 
Schnitzler, krank, aschgrau, gealtert aussehend – und wenige Tage darauf muß er sich einer Operation
                        unterziehen. Die Rekonvaleszenz ist schwerer, als die Ärzte annehmen konnten. Die »
Ochsennatur«, von der 
Bahr selbst einmal in frühen Jahren sprach, hat diesmal ihren ersten schweren Stoß erlitten.
                        Ein Herz, das sich nie geschont hat, lautet die ärztliche Diagnose. Ein Mensch, der
                        sich immer unbedenklich an die Welt verschwendet, empfindet der Freund, der mit dem
                        Gefühl tiefster Sympathie am Bett des Kranken erschienen ist.
 
                     Obwohl noch schwach und müde zu Bett, schreibt 
Bahr eine Art Rückblick über 
Schnitzlers Entwicklung. 
Dieser sei nach seinem ersten plötzlichen Erfolg in Gefahr gewesen, sich zur Manier
                        verführen zu lassen. Und er, 
Bahr, habe diese Befürchtung damals ausgesprochen, gereizter und heftiger, als es notwendig
                        gewesen wäre, aber eigentlich doch in einer guten Gesinnung. 
Schnitzler jedoch hätte ihn gar nicht gebraucht, »
denn in ihm ist jene wunderbare Ungeduld der ganz ehrlichen Menschen, die sich niemals
                              beruhigen, bei keinem Erfolge verweilen, sondern unerbittlich von sich das Höchste
                              zu fordern entschlossen sind«.
 
                     Es duldet ihn nicht lange, sich der Krankheit hinzugeben. Schon schlägt er wieder,
                        mit halb noch versagenden Kräften, nach allen Seiten aus. Das meiste, was jetzt rundherum
                        geschieht, ist dazu angetan, ihn aufzureizen und zu ärgern.
                     Zum erstenmal scheint 
Bahr durch die Vergeblichkeit seines Kampfes entmutigt, und der Gedanke taucht in ihm
                        auf: fort von 
Wien! »
Wunderschön drückt es Bettina aus, was ich so oft, aus der Stadt kommend, in meinen
                           Garten tretend, von den Menschen aufatmend fühle: Der tiefe Schauder, der mich schüttelt,
                           wenn ich eine Weile der Welt zugesehen habe, wenn ich dann hinter mich sehe in die
                           Einsamkeit und fühle, wie fremd mir alles ist.[Bettina von Arnim:] Goethe’s Briefwechsel
                           mit einem Kinde. Berlin: Ferdinand Dümmler1835, Zweiter Theil, S. 191.« 
 
                     Aber er gibt nicht nach. Ende 1903 läßt er das kleine Buch »
Gegen Klimt« erscheinen – eine Sammlung der böswilligsten Kritiken über den bedeutenden Maler,
                        dessen Bilder »
Medizin« und »
Philosophie« nach einem Protestgeheul der Öffentlichkeit von der 
Wiener Universität, für die sie gemalt waren, zurückgewiesen wurden.
 
                     
                     
                     Im 
Herrenhaus hatte sich während einer Debatte über aktuelle Kunstfragen ein Graf 
Montecuccoli erhoben, um gegen die »krankhaften Auswüchse« in der bildenden Kunst Stellung zu
                        nehmen, die sich namentlich in den Bildern von 
Klimt zeigten. Das 
Unterrichtsministerium sollte eine derartige Kunst in keiner Weise unterstützen, sondern alles aufbieten,
                        um diese Richtung einzudämmen.
 
                     
                     Gegen 
Mahler wird wieder einmal mit allen Mitteln gehetzt. Das Publikum der 
Wiener Konzertsäle, seit jeher zunächst skeptisch, konservativ und jeder neuen Tonsprache
                        abgeneigt – seit 
Brahms ist hier der allgemeinen Ansicht nach nichts Nennenswertes komponiert worden – ließ
                        es sich genügen, 
Mahlers Opernaufführungen hervorragend zu finden; daß sich aber in seinen Werken eine tragisch
                        ringende Seele aussprach, das ging den Wienern zu weit. Und geringschätzig nennen
                        sie seine Symphonien, von der Kritik darin bestätigt, Kapellmeistermusik.
 
                     Zu den ersten, die in 
Mahler nicht nur den großen Dirigenten, sondern auch den bedeutenden Komponisten erkennen
                        und verehren, gehörte 
Schnitzler.
 
                     Er fehlt bei keiner Erstaufführung seiner Symphonien, die 
Mahler selbst dirigiert; regelmäßig nimmt 
Schnitzler im Hintergrund der zweiten oder dritten Loge des großen 
Musikvereinssaales Platz, um gut zu sehen und zu hören, selbst aber möglichst unauffällig zu bleiben.
                        Zu persönlicher Bekanntschaft zwischen 
Mahler und 
Schnitzler hatte sich noch keine Gelegenheit gegeben. Aber es war 
Mahler gewiß nicht unbekannt geblieben, welchen Bewunderer er in 
Schnitzler hatte.
 
                     In der Pause eines seiner Konzerte tritt der 
Sekretär der Gesellschaft der Musikfreunde in 
Schnitzlers Loge: »Herr Doktor, 
Mahler läßt Sie um ein paar Zigaretten bitten, er hat seine zuhause vergessen.« – Eine überraschende
                        und liebenswürdige Form erster Annäherung.
 
                     Eine kleine Abendgesellschaft bei 
Mahlers Schwager, dem Geiger 
Arnold Rosé bringt die beiden endlich 
in Verbindung. Schon diese erste Begegnung hat 
Schnitzler völlig gefangen genommen – es war ihm klar, in 
Mahler einen der wenigen großen Menschen zu sehen, denen er je begegnet war, und eine tiefe,
                        fast schüchterne Liebe zu 
Mahler hat ihn seither nie mehr verlassen.
 
                     Symbolisch für 
Mahlers Grundstimmung erschien ihm der erste Satz der 
dritten Symphonie – die Vision einer vorbeiflutenden Volksmenge, die sich marschierend einer unbedenklich
                        brutalen Lustigkeit hingibt, während er selbst, als einsamer Zuschauer am Rande stehend,
                        alle Stimmen tiefer Welterkenntnis und dämonisch aufgewühlter Melancholie übermächtig
                        aus sich hervorbrechen fühlt. Dieser Seelenverfassung wußte 
Schnitzler sich im Innersten nah und verwandt, und aus mancher Stelle seines eigenen Werkes
                        tönt gleiche Sehnsucht, gleiches Wissen und gleiche Trauer.
 
                     Der Mensch ist verboten, sagt 
Bahr; er meint: die Persönlichkeit. Sie war in 
Österreich nie gern gesehen. Dem Beispiel seines Herrschers folgend, ist Einordnung geboten,
                        jedes Hervortreten scheint unziemlich. Lautlosigkeit, Zurückweichen, Umgehen wird
                        geübt, wo 
Bahr weithin hörbare Auseinandersetzung, sichtbare Stellungnahme fordert. In wenigen Ländern
                        ist so viel Talent zu finden, das sich achtlos verspielt, namenloses Volkslied wird,
                        zu schönen Farben, Formen, Hausrat aufgeblüht, ohne viel Wesens aus sich zu machen.
 
                     Zu Ehren Gottes und der Heiligen sind seine Holzfiguren geschnitzt, blüht seine Malerei,
                        und kunstvoll feine Eisengitter drängen so leicht wie undurchdringlich den derben
                        Griff der Wirklichkeit von allen Hochaltären seiner Imagination zurück.
                     Die widerspruchsvolle Geste zwischen Hochmut und Bescheidenheit, die Selbstverständlichkeit
                        und Würde uralten Reichtums kommt überall zum Vorschein, bis in die kaiserliche Schlichtheit
                        von 
Schönbrunn, das erst bei näherem Zusehen seine Pracht enthüllt. 
Bahr hört prophetisch das ferne dumpfe Schüttern, das dieses 
Österreich untergraben will.
 
                     
                     »
Ich habe den Verdacht«, schreibt er, »als ob das Sein niemals, daß immer nur das Werden
                              schön sei!« Ein ewig werdend sich Wandelnder, vorwärts Flüchtender ist er selbst, untreu dem
                        Gestern, unstet im Heute und nur voll Sehnsucht nach dem Morgen. Das ist die Gebärde seines Landes nicht,
                        jenes 
Österreich, das dämmernd ruht, in sich geschlossen, rund in sich zurückgebogen, willenlos seine
                        stummen Kräfte treibend, gelassen wie die Natur selbst und grausam achtlos auch wie
                        sie, wenn edle Frucht zugrunde geht.
 
                     Der heilige Zorn, die aufgereckte Faust, die dieser rebellierende Patriot herausfordern
                        will, sind seiner Heimat Geste nicht. Weltliche Macht ist nicht ihr letztes Ziel,
                        denn allen Glanz und Reichtum hat sie längst besessen, schon ausgekostet seine fragwürdige
                        Vergänglichkeit; in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, ist 
Österreich hineingeraten.
 
                     In diesem Gleichmaß des Beruhens und Beharrens meint freilich jeder zu ersticken,
                        der aus dem Willen und Bewußtsein lebt.
                     Und wo denn sonst als in dem immer gärend bewegten, stürmisch jungen, zukunftsträchtigen
                        
Deutschland, kann 
Bahr zu finden hoffen, wonach es ihn verlangt?! Aus früher Jugend schon berichtet er von
                        dieser Sehnsucht nach 
Deutschland. Im Jahre 1883, als 
Richard Wagner starb, hatte er im Trauerkommers der 
Wiener Studentenschaft eine Rede zu halten; und die wirkte in ihrem Bekenntnis zu 
Deutschland so stark, daß er schon vierzehn Tage später relegiert wurde. So ging er damals nach
                        einem Umweg wüster Rauf- und Saufzeit in 
Czernowitz nach 
Berlin.
 
                     Es kam der siebzigste Geburtstag 
Bismarcks, und 
Bahr sollte im Namen der deutschen Studentenschaft 
Österreichs dem vergötterten Kanzler eine Rede überreichen.
 
                     
                     Er wird zunächst gar nicht vorgelassen, man nimmt ihm die Adresse nur höflich dankend
                        ab, es bleibt ihm also vorläufig nichts übrig als seiner Wege zu gehen; aber er dringt
                        darauf, vom 
Kanzler selbst empfangen zu werden. Einige Tage später wird er ins Palais beschieden, und
                        der 
Fürst läßt ihm durch seinen Rat 
von Rottenburg danken. Welche Enttäuschung! Und was muß er hören? 
Bismarck freue sich, die 
Wiener Studenten so gut deutschgesinnt zu wissen, sie könnten es aber nicht besser beweisen,
                        als wenn sie ihre ganze Kraft einsetzten, um 
Österreich stark zu machen. Deutschland rechne auf diese Jugend, es brauche sie – aber in 
Österreich. Ein mächtiges 
Österreich sei 
Deutschland unentbehrlich. Das alles war in kühlem Ton so gleichsam nebenhin gesagt.
 
                     Schweigsam und betreten saß nun der junge Mensch da; die kühnen Worte, mit denen er
                        erfüllt war, in sich verschließend. Und als er nur noch stammeln kann, ob seinen Kameraden
                        damit nicht doch ein zu großes Opfer zugemutet würde, sah ihn der Rat lächelnd an
                        und meinte: ob sie nicht alle ein viel größeres Opfer bringen müßten, um in das 
Deutsche Reich aufgenommen zu werden, ob sie das überhaupt könnten und ob es, wenn sie es könnten,
                        nicht doch schade darum wäre. Welchen Vorteil das deutsche Wesen denn davon hätte,
                        wenn diese 
österreichische Spielart daraus verschwände, diese Eigenart, die sich gerade im Zusammenleben mit
                        vielen andern Völkern entwickelt hat und nur darin zu erhalten wäre.
 
                     So sah des 
Kanzlers Botschaft aus. Denn längst schon hatte seine Weisheit es erkannt: »
Wenn 
Österreich nicht existierte, müßte man es erfinden.«
 
                     In manchen Wandlungen, in vielen »
Superlativen des Lebens« bewegt sich von nun an der Mann, dem »
mittlere Zustände unerträglich sind«. Ein Sozialist ist er in 
Wien. In 
Paris ein Bohemien, von den Problemen künstlerischer Form besessen. In 
Spanien ein Bummler, der Freund von Stierkämpfern und Tänzerinnen, voll Hohn bei dem Gedanken,
                        daß er je 
Kant und 
Marx gelesen hat. In 
Deutschland ein Vorleser neuester Dichtung auf Tournee – »
so bin ich in Nord und Süd für Deinen Ruhm besorgt«, schreibt er an 
Schnitzler. Einmal für eine Weile Regisseur bei 
Max Reinhardt. Ein Autor vielgespielter Stücke: »
Meine Lustspiele sollen den Leuten vorschwindeln, daß man über das Leben lachen kann.« Und wenn er auch in einem Brief an 
Schnitzler in Berlin »
alles, fast alles ganz famos findet«, sieht er doch, was in Vergangenheit und Zukunft seine Geltung hat.
 
                     
                     In 
London ist er der Gesprächspartner 
Bernard Shaws, den er zum  
englischen Hermann Bahr ernennt. Endlich wieder in 
Wien, wird er »
der große Nothelfer der 
österreichischen Kunst«, wie er sich selbst bezeichnet, und als den überlegenen Meister seines »
Dialog vom Marsyas« muß man ihn erkennen.
 
                     
                     
                     Nur durch eine erbitterte Anrufung seiner innersten Instinkte hat er sich von der
                        
österreichischen Vergangenheit 
frei gemacht; ganz frei freilich erst, seit er mit dem Tod so vertraut ist, seit der
                        Tod wirklich sein bester Freund geworden ist, der einzige, den er sich wirklich noch
                        verdienen will  .  .  .  so schreibt er in einem Brief an 
Schnitzler.
 
                     Sein bester Freund erst, seit er ihn, es ist wenige Monate her, in einem schweren
                        und harten Kampf niedergerungen hat. Von seinem 
Wiener Arzt war er für zwei bis drei Monate in ein 
Sanatorium am Bodensee geschickt worden. Es ist Januar, die Winternebel brauen trübselig über der toten
                        Landschaft, trostlos ist sein Zustand, die schwere Kur bringt ihn an den Rand des
                        Vergehens. Aber der 
Anstaltsarzt versteift sich hartnäckig auf seine Heilmethode. Mit einem letzten Aufbäumen aller
                        Kraft beschließt der Kranke zu fliehen. Er gibt sich verloren. Aber wenn es das Ende
                        ist, dann nicht hier, nicht in dieser düsteren Fremde sterben! Er schleppt sich heimlich
                        aus der Umfriedung der 
Anstalt, kommt mühselig bis an ein Wirtshaus, stürzt dort, da er zusammenzubrechen droht,
                        ein Glas Schnaps hinunter – nichts haben ihm die Ärzte so streng verboten wie Alkohol
                        – und erreicht seinen Zug. Auf dieser Reise, in diesen vielen Stunden der Heimfahrt
                        meint er zwanzigmal, nach Luft ringend, zu vergehen, und in solcher Not, ein Bettler,
                        übel zugerichtet, beginnt er zu beten, erstarkt im Gebet, befreit sich, indem er endlich,
                        endlich sich unterwirft, sich ergibt, sich lösen kann vom Druck und Krampf und Widerstand
                        der eigenen Natur – er lernt, sich zu überwinden, findet die Kraft »
dem Erhabenen selbstverzichtend Ja zu sagen« – und von da an, tief entspannt, ein neues Leben zu beginnen.
 
                     »
Aber über dies alles einmal mündlich in einer guten Stunde, denn es ist tief, ›
viel tiefer als der Tag gedacht‹, 
Tristantief, wo es im zweiten Akt viel schöner zu finden ist als ich es je werde aussprechen
                        können«, schreibt er an 
Schnitzler.
 
                     Gleichzeitig gesteht er, daß er sich mit einer gewissen törichten Leidenschaft, der er aber im Augenblick so viel unsagbares Glück verdanke, wie er es nie
                        im Leben gekannt, aufs Hören von Musik geworfen habe – »
vielleicht wird man so transparenter Seligkeiten erst im Angesicht des Todes fähig« – wovon er dann manchmal in einer Ermattung mit vollständigem Versagen und Versiegen
                        jeder Kraft zurückbleibt. Was ist geschehen? Im Dunkel des 
Opernparketts sieht man seinen mächtigen Kopf jetzt häufig auftauchen, an allen jenen
                        
Wagner-Abenden, die 
Mahler dirigiert, in denen 
Anna von Mildenburg die 
Isolde, die 
Walküre, die 
Ortrud ist, die große Sängerin, wie eine Sybille des 
Michelangelo, mit einer Stimme, die gleich einem dunklen Raubvogel in den Lüften schwebt. Ein
                        überlebensgroßes Maß der Gestaltung, gepaart mit dieser dämonischen Stimme, gibt ihren
                        Figuren die Wirkung, wie sie von der antiken Tragödie zu denken ist – und ruft den
                        schon Weltverlorenen zurück von Grenzen gefährlicher Todesnähe. Und obwohl er »
äußerlich in einem rechten Durcheinander lebt, das er nicht ändern kann und nicht
                        ändern möchte«, gibt ihm die persönliche Begegnung mit der bedeutenden Frau ein Gefühl frohester
                        innerer Genesung, und der bis dahin in tiefer Einsamkeit gelebt hat, sieht sich endlich
                        dem einzigen Wesen gegenüber, das ihn je aufzuschließen imstande war und dem er sich
                        für immer verbindet.
Die tiefste Erfahrung, die Menschen zwischen Werden und Vergehen durchzumachen haben
                        – der unlösbare Rest von Fremdheit auf dem Grunde aller Beziehungen – ist das ewige
                        Problem der Freunde. Segen und Schauer der Einsamkeit, das leidenschaftliche Sehnen,
                        sich losgebunden zu verströmen in die Welt und doch wieder Rückstoß und Flucht ins
                        eigene Innere, dies ist der Kreislauf, der die Mitte ihres geistigen Erlebens wie
                        ein Zauberring umschließt.
                     Voll Staunen, wie nach unerreichbar ferner Sphäre, sieht 
Claudio, der Tor, hinüber zu jenen, die im Tale wohnen.
 
                     
                     
                     Hier ist ein Wissen um die Grenzen aller menschlichen Beziehung, eine Erkenntnis,
                        die sich auf leichtem Flügel über Abgründe voll tiefer Trauer weghebt. Eine Täuschung,
                        ein Verkennen der Distanz von Seele zu Seele ist nicht mehr möglich. Das Gespräch,
                        schönste Bestätigung aller Nähe, ist eine schwankende Brücke geworden, auf der Begegnung,
                        Aug in Aug und Brust an Brust, selten ist wie jedes Wunder, selten glückhafter Moment
                        bleiben muß, sollen die Dinge nicht entweiht, nicht ihrer tiefsten Kraft beraubt werden.
                     Gespräch ist Anlaß zur Selbsterläuterung geworden, ein Monolog zu zweit – fragwürdig,
                        was noch hinüberdringt, auch unter diesen Meistern des Wortes. Was hört der andere?
                        Was rührt ihn an?
                     »
Und daß wir von einander nicht gar zu viel wissen und immer ein Jeder, wie ein Neuer
                        aus seinem Leben hervortritt und wieder hineingeht, ist sehr schön.« (
Loris in einem Brief an 
Schnitzler.)
 
                     Bahr gesteht, wieviel ihm »
Der einsame Weg« in seinen Hauptgestalten und ihrem Erleben ist; am meisten berührt ihn die Figur
                        des 
Julian Fichtner, in welchem er unheimlich viel von sich selbst findet. Ja, so sehr fühlt er sich
                        mit ihm verwandt, daß er den Wunsch verspürt, ihn auf irgendeiner 
Bühne selbst darzustellen. Und was von 
Julian Fichtners Bildern gesagt wird, bezieht er auf sich selbst. »
Meine Sachen ließen sich kritisch garnicht besser bezeichnen als damit, daß ich mich
                        leider auch in ihnen sozusagen nur vorübergehend aufhielt.« (Brief an 
Schnitzler.)
 
                     Und ist er nicht auch wirklich von Anbeginn jenem 
Julian gleich gewesen, der jeder Fessel entläuft, »
als läge dort hinter jenen Hügeln die Zukunft, schimmernd von Glanz und Abenteuern
                              – und wartete auf ihn«? Ist nicht auch in ihm »
jene ungeheure Angst, die Angst, das Leben zu versäumen, das Einzige, das Höchste«, die ihm auch 
Schnitzlers »
Der Ruf des Lebens« auszudrücken scheint? Noch nie, so empfindet er, ist 
Schnitzler so tief in das Gemüt seiner Generation, in ihre letzte Sehnsucht eingedrungen wie
                        in diesem Werk. »
Du wirst sehen«, schreibt 
Bahr, als er von einem eben beendeten 
Werk spricht, »daß mir dies, gerade dies und eigentlich nur dies allein unser eigentliches
                        Problem scheint, von dem mir alle anderen unserer Forderungen oder Fragen nur Abwandlungen
                        oder Variationen scheinen.«
 
                     
                     Wie aus einer gemeinsamen Wurzel entstanden, bricht dieses Thema in den Dichtungen
                        der Freunde auf: die ungeheure Angst, das Leben zu versäumen. Von daher stammt die
                        Liebe zur Gestalt des Abenteurers, die Neigung, den von allen Bindungen gelösten Menschen
                        an letzte Grenzen seelischer Spannung zu setzen, sein Inneres in Drang und Druck hinaufzutreiben
                        bis in tollste Wirbel der Gefahr.
                     Nacht, Rausch und Traum am Rande der Vernichtung – die Stadt Bologna, vom mächtigen
                           Feind belagert, vor ihrem letzten Ausfall – das 
blutgierig lauernde Volk von Paris, wenige Stunden vor der Erstürmung der Bastille – das 
Traben der Rosse, immer nur das Traben des todgeweihten Regiments vor den Fenstern
                              des sehnsüchtigen Mädchens, das verzweifelt den Geliebten unter den Todgeweihten und
                              sich selbst an einen bösen alten Vater gefesselt weiß – das sind die Situationen in 
Schnitzlers Dichtung, die Hintergründe, vor denen Sieg oder Unterliegen des lockenden Lebens
                        sich entscheiden. Der Abenteurer 
Hofmannsthals im tänzerisch leichten Spiel um Gold und Genuß – gejagt von seiner Gier und selber
                        ihre Beute – ein Gleiten, und er weiß: der nächste Schritt heißt Tod. Ein Klopfen
                        an der Tür, und er schreit auf: »
So ist’s der Messer Grande und mein Tod!« – zu jeder Zeit des Äußersten gewärtig. Der Gegenspieler Tod ist überall, an jedem
                        Wegrand lauert er, den Preis zu fordern. Läßt das Bewußtsein seiner Gegenwart nicht
                        alle Farben feuriger aufglühen, den schönen Augenblick nur um so süßer auf der Zunge
                        schmelzen, weil es der letzte gewesen sein kann?
 
                     
                     
                     Die Fülle  .  .  .  Es ausschlürfen können, bis es alle seine Süße hergegeben hat, wie eine üppig reife
                        Traube, die trunken macht – das allein kann mit dem Tod versöhnen. Nichts versäumt
                        haben, nicht alle tiefste Lust und nicht die herbste Qual, das ist es, was auf alle
                        Straßen treibt, das läßt die Begierde nicht ruhen – und wie sehr ist sie der Neugierde
                        schwesterlich verwandt – das ist die Fanfare auf der Jagd nach dem nie erhörten Erlebnis
                        – und um wie viel mehr ist es das Lauschen nach dem Echo, das durch die eigene Seele
                        zieht, der Nachklang aus dem weiten Land der Seele, darin so vieles Raum hat: Liebe
                        und Treulosigkeit, Leidenschaft und Kälte, Wahrheitstrieb und Lüge, alles Hohe und
                        Niedere dicht beieinander, sonderbar gekoppelt.
                     »
Der Mensch ist weit, allzu weit, man sollte ihn enger machen«, dies Wort des 
Dmitrij Karamasow stößt 
Bahr zu einer Zeit blitzhaft entgegen, da es ihn schon gemahnt, »aus der Unendlichkeit
                        der Welt in bergende Enge« zu flüchten. Maß und Bändigung kommen spät, und meistens sind es Frauen, die das Wort der Selbstbegrenzung
                        aussprechen.
 
                     Der weise sternenkundige 
Erasmus aus 
Schnitzlers »
Hirtenflöte« heißt seine Frau 
Dionysia willkommen, als sie aus tausend Abenteuern heimkehrt. »
Du hast dein Leben gelebt, Dionysia. Reiner stehst du vor mir als alle jene andern,
                           die im trüben Dunst ihrer Wünsche atmen. Du weißt, wer du bist« Doch sie entgegnet: »
Ich weiß, wer ich bin? So wenig weiß ich’s, als da du mich entließest. In der Beschränkung,
                              die du mir zuerst bereitet, und wo alles Pflicht wurde, war mir versagt, mich zu finden.
                              Im Grenzenlosen, wohin du mich sandtest, und wo alles Lockung war, mußte ich mich
                              verlieren. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ein Weiser du? Und hast nicht erkannt, daß
                              jedem menschlichen Dasein nur ein schmaler Strich gegönnt ist, sein Dasein zu erfüllen?«
 
                     Das also war’s? Ist es nur darum gegangen? Auf der Spur des eigenen Ich ist der Mensch
                        rund um die Welt gelaufen. »
Wo ist Wahrheit?« fragt 
Bahr, als er, erschüttert die Unsicherheit des Ich entdeckend, vom 
unrettbaren Ich spricht. »
An Stelle des Constanten und Absoluten tritt das fließende wechselnde Spiegelbild
                        der eigenen Einbildungskraft .  .  .  
Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern
                              die Illusion .  .  . « – und sich zusammenfassend, wie vor einem Meer von Ungewißheit, das ihn zu überfluten droht: »
Für mich gilt nicht, was wahr ist, sondern was ich brauche!«
 
                     Und doch kommt für ihn auch ein Tag, an dem ein Schauder ihn ergreift vor so viel
                        Freiheit. Zu oft hat er sich seines Selbst entäußert, und endlich steigt ein Sehnen
                        auf – vielleicht ist’s heimliche Erinnerung aus früher dumpfer Kindheit, da eine sanfte
                        Hand die seinen zum Gebet faltete – ein dunkles Ahnen, das Schutz sucht, Maß will,
                        Sicherheit und unumstößliche Instanz. Endlich erkennt er, daß Bei-sich-angelangt-sein
                        auch schon Auf-sich-verzichten heißt, zugunsten eines Höheren.
                     »
Das Erhabene«, sagt er, »dem man sich nur dienend naht.« – Der Unband, der ruhelos sich Wandelnde, steht schließlich doch vor Endergebnissen;
                        und ein 
Nietzsche-Wort hat ihm den Star gestochen: »
Denn ›autonom‹ und ›sittlich‹ schließt sich aus.« – Nun heißt es wählen; und da Befreiung nur im Erkennen des Absoluten und Konstanten,
                        nur im Bereich des Sittlichen zu finden ist, kann er auf »autonom« verzichten.
 
                     Wir sehen ihn in 
Salzburg, im Sommer 1920. Draußen vor der Stadt wohnt er jetzt, im 
Schlößchen Arenberg. Er lebt inmitten seiner vielen Bücher – ein mächtiger Leser, schreibt sein Tagebuch,
                        ruhig und voll heiterem Wissen, unangefochten von der Welt, die ihn so lang gefangen
                        hielt.
 
                     Man sieht ihn durch die sonnbeglänzten alten Straßen gehen, in der bequemen Tracht
                        des Landes, mit nackten Knien, die Gestalt ist sehnig, voll vitaler Kraft, Haar und
                        Bart sind weiß geworden. Die Leute sehen ihm freundlich zwinkernd nach und sagen:
                        Der liebe Gott. Sie sagen auch, daß er am frühen Morgen in der Messe betend auf den
                        Knien zu finden ist.
                     Nur schauen am hellen Tag zwei sehr verschmitzte Augen aus dieser Gottvatermaske in
                        die Welt. Er plaudert, er erzählt, wie er sich selbst kuriert. Seit beinah zwanzig
                        Jahren tut er genau das, was ihm der Arzt verboten hat. Er raucht, er ißt kein Fleisch,
                        er steigt an jedem Morgen auf irgendeinen hohen Berg. Ganz langsam, systematisch atmend,
                        ein Training für sein Herz. Meist nimmt er sich Gesellschaft mit, der liebste und
                        klügste Gesprächspartner ist ihm 
Stefan Zweig. Und kommt im Steigen eine steile Stelle, wo er nicht reden will – nun muß man seine
                        Augen lustig blinzeln sehen – sagt er absichtlich etwas Provozierendes, »wirft ein
                        Hölzel«, das den andern in Harnisch bringen muß, und ist die steile Stelle mit Keuchen
                        für den eifrig sprechenden Begleiter überwunden, fühlt er sich um so besser ausgeruht
                        und kann nun wieder weiterreden. Gottvater lacht  .  .  .  Nein, es scheint, es war doch wieder nicht der rechte, es war doch wieder der alte
                        
Hermann Bahr, der hier vorüberging.
 
                     Im Winter 1921: 
Salzburg im Schnee. So stumm und einsam sind die Tage, so schweigend lebe ich, wie von mir
                        selber losgelöst, in dieser Stille. Billets kommen, in der winzigen schönen Schrift
                        
Hermann Bahrs: »Darf ich Sie zu einem Spaziergang holen?« Mit dem Glockenschlag erscheint er, ist
                        ritterlich, charmant und führt mich jedesmal zwei Stunden lang auf schneeglitzernden,
                        schimmernden Wegen durch die Landschaft, in einem nie stockenden Gespräch, voll Ernst
                        und voll Humor, so zart und so voll Weisheit, als ob er eine Krise, eine Hilfsbedürftigkeit
                        verspürte. Güte? Ja, es war große Güte. Es sei ihm nicht vergessen.
 
                     Sein eigenes Problem streifend: »
sich aus allzu großer Weite in eine welterfüllte Enge zurückzuziehen«, streift er einmal zugleich auch das der Habsburger, »
des adeligsten Hauses der abendländischen Geschichte«:
 
                     
                     
                     Dieser Sinn ist: Heimkehr. – »
Nach dem Gesetz, nach dem du angetreten .  .  . « – Wieviele Phasen er durchlaufen haben mag, er ist geworden, was er von Anbeginn
                        gewesen, er ist, was er so hart bekämpft: ein österreichischer Mensch mit allen seinen
                        Schichten, seinen Widersprüchen, im Kampf mit seiner weitläufigen Natur, 
Peer Gynt aus 
Oberösterreich, der seinen Ruhepunkt erst im Dämmerlicht der Kirche findet.
 
                     Löst es sich nun auf in Weihrauchwolken und Engelchören, dies reich bewegte Leben
                        voll Aufruhr und Ketzerei? Wir hören es nicht mehr. Was wir noch hören, ist ein weher
                        Ton.
                     
                     Aus 
Deutschland, dem einst so ersehnten, aus seinem letzten Wohnort 
München, wohin es ihn verschlagen hat – damit sein 
österreichisches Schicksal sich ganz rein erfülle – schreibt er im Jahre 1930, drei Jahre ehe er stirbt, an 
Schnitzler: »
In Bereitschaft sein ist alles! – Nun, ich bin bereit, aber es ist nicht angenehm  .  .  Sag’s nicht weiter, wenn ich Dir gestehe, daß von Jahr zu Jahr mein Heimweh nach
                        
Wien wächst, fast so stark wie das meiner 
Frau  .  .  .  Aber 
Wien ist vergeßlich, und so werden wir wohl in der Verbannung sterben  .  .  . «
 
                     Hatte 
Schnitzler damals ebenso das Gefühl, daß sein Vaterland in nichts zerrann? Nein; denn ihm bedeutete
                        – bei aller Ahnung drohenden Unheils – der Lauf der Geschichte einen kontinuierlichen
                        Vorgang ohne Zäsur und ohne Aktschluß, Heimat eine unwandelbare Gegebenheit. Und jenseits
                        von aller Politik fing ihm das Denken, das Wirken und das Leben an.
 
                     Hat er sein Werk für die Welt oder gegen die Welt geschaffen? – Über der Welt, wie
                        jeder Künstler.
                     Das Schicksal 
Österreichs? Gewiß, es hat sein Werk bedingt, geformt, sein Leben leicht und schwer gemacht,
                        er war darein verwoben – es war sein. Aber was ist Schicksal?
 
                     »Nicht, was einem Menschen von außen zustößt, sondern was Einer von der Welt appercipiert,
                        das ist sein Schicksal.«
                     Mit diesen Worten, gesprochen einst von 
Friedrich Gundolf unter dem nächtlichen Himmel 
Venedigs – es schwang sich befreiend auf bis unter die schwebenden Sterne – will ich von
                        Hermann 
Bahr Abschied nehmen.