Hochverehrter Herr Doktor!
Ich bin auf meiner Suche nach einem ein
samen Erholungsorte – infolge einer während
der Ei
senbahnfahrt vernommenen Äußerung einer Mitrei
senden – in die
sen kleinen
bäuerlichen Ort des
Innviertels, nicht weit von
Schärding entfernt, geraten und habe das
gefunden, was ich ge
sucht hatte: unge
störte Ein
samkeit – nur manchmal ver
sucht
sich
die ältere
Wirtstochter oder
ein
streb
samer Jüngling der Nachbar
schaft im Klavierüben; letzteres hat
seinen Grund
darin, daß mein
Wirt im
Be
sitze des Ortsklaviers i
st –, wundervolle fruchtbare Wie
sen und Felder ringsum im
Hügelland, weite Strec
|ken
abwechslungsreicher Nadelwälder, in denen es außer vielem Wild, das jetzt für mich
leider nicht in Betracht kommt, Beeren und Schwämme gibt und endlich eine
sehr gute,
reichliche und nach
Wiener Begriffen äußer
st
wohlfeile Friedensko
st; denn man verfügt hier noch über Nahrungsmittel, deren
Exi
stenz in
Wien läng
st zur Sage geworden i
st, vor
allem reichlich über Mehl, Butter und Milch. Die
ses Phänomen i
st zum Teil darauf
zurückzuführen, daß man Sommergä
ste mit wenigen Ausnahmen rück
sichtslos abwei
st und
sich Ham
sterver
suchen gegenüber
sehr
spröde zeigt; weshalb man mit mir eine Ausnahme
gemacht hat, weiß ich eigentlich nicht recht, aber es ge
schah – nach ur
sprünglicher
Abwei
sung – und ich bin dem Schick
sal dafür
sehr dankbar. Ich glaube bereits die
gün
stigen Wirkungen der un
spar
samen
|Verkö
stigung nicht nur auf meinen körperlichen,
sondern auch auf meinen gei
stigen
Zu
stand wahrzunehmen, eine gewi
sse Fähigkeit, freier und ungenierter Gedankengängen
nachzugehen, ohne be
sorgen zu mü
ssen, daß
sie plötzlich – wie es in
Wien so oft ge
schah – in die Sackga
sse der Nahrungsfrage
einzulaufen: dies Kriegsthema des E
ssens
schien mir in Ge
spräch und Denken
schon
so
unvermeidlich wie der Kopf
Karls I. in den
Promemorien des armen Dick im
David Copperfield.
Meine Lebenswei
se hier i
st von äußer
ster Einfachheit: ich gehe nach dem Früh
stück in
den Wald, laufe und liege drin bis zum Mittage
ssen; bis zur Jau
se
sitze oder liege
ich in oder beim Hau
se; dann gehe ich wieder in den Wald und verla
sse ihn er
st, um
zum Nachtmahl zu gehen; nach dem Nachtmahl
spaziere ich ein wenig auf den Feldern
umher und
sitze dann mit Bauern und Schul
|lehrer beim Mo
st. Ich habe in
zwei Wochen – außer der Zeitung – keine 20 Seiten im »
Siebenkäs« gele
sen und nur
sehr wenig ge
schrieben. Trotzdem bin ich mit
jener
Kriegstragödie, von
der
n ich Ihnen erzählte, (der
Kannibalenge
schichte) ziemlich weit gekommen; zum Nieder
schreiben bin ich nur viel zu
faul. Aber die
ses läßt
sich hoffentlich in
Wien
nachholen.
Die Kriegs
stimmung der hie
sigen Bevölkerung, die durch die letzte Niederlage
schreckliche Verlu
ste erlitten hat, i
st nicht viel be
sser als die der
Wiener; vor Äußerungen der Erregung bewahrt
sie
wohl nur ihre fel
senhafte Zuver
sicht, demnäch
st zu
Baiern zu gehören: – worauf die
ser Glaube beruht, i
st nicht zu eruieren.