Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 31. 12. [1894]

|Frankfurter Zeitung Paris, 31. December.
Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureau à Paris:

Mein lieber Freund,

das sind recht erfreuliche Nachrichten, – unberufen! – die Dein Brief bringt. Speidel besonders ist eine förmliche Überraschung. Der Mann, der bei der Lampe nach Mitternacht über Deinem Stücke sitzt, wird mir beinahe sympathisch. Sollten wir ihm vielleicht Unrecht gethan haben? Er war gegen das Neue; aber hat es denn viel Neues gegeben? Und haben wir nicht am Ende das Neue mit uns verwechselt, die wir neu waren? Das Urtheil, das er über Dich fällt, spricht sehr zu Ehren |seines Kunstverständnisses. Nun kann es doch unmöglich mehr fehlen. Wo soviel Mächtige dafür sind, wird das Theater-Gesindel nichts mehr ausrichten können. Daß B. Dich besucht, imponirt mir besonders. Welchen Weg hast Du durchlaufen von drei Jahren bis auf heut! Mir kommt so vor, als sei jetzt nur noch ein tüchtiger Ruck zu geben, und dann am Ziel! Wenn sich die Sandrock vom Volkstheater jetzt schon losmachen könnte, so wäre es wohl gut (Warum spielt übrigens die Hohenfels nicht die Rolle?). Wenn nicht, so wartest Du ruhig bis zum nächsten Jahr. Der Titel »Liebelei« mißfällt mir. |Er klingt maniriert, unliterarisch und verkleinert die Arbeit. Ich möchte, daß Du auf die kleine Nuance verzichtest und einfach gerade heraus »Eine Liebschaft« sagst. Das klingt mehr nach bürgerlichem Drama. Und nun werde ich endlich ungeduldig. Alle Welt hat schon über dem Stücke gesessen, mit Bangen und ohne. Ich weiß allerlei Urtheile und kenne es selber noch nicht. Könntest Du es mir nicht auf wenige Tage zugänglich machen? Ich lese es in einem Tage aus und schicke es sofort zurück. Bitte, bitte, mach’ es irgendwie möglich; Du kannst Dir denken, wie gespannt |ich bin. Die Spannung wächst mit jeder neuen Nachricht. Nun muß ichs endlich kennen lernen, zum Teufel auch! Und, nicht wahr, sobald Censur und Intendanz gesprochen haben, theilst Du mir sofort das Resultat mit? Schreib’ mir auch, ob die Frankf. Ztg. etwas darüber bringen soll. Einstweilen beglückwünsche ich Dich von Herzen zu den bisherigen guten Resultaten. Speidel ist bereits der halbe Erfolg. Ich freue mich sehr. . . . . 
In einem der nächsten Hefte des »Mercure de France« kommt ein Aufsatz von Albert über Euch. Leider hat er mich nicht um Rath |beim Schreiben gefragt. Es stehen also offenbar einige Stiefel drin. Aber die Hauptsache ist doch, daß etwas geschrieben wird. Auch will er nächstens etwas von Dir übersetzen. Wie macht sich der literarische und buchhändlerische Erfolg von »Sterben«?
Was hört man von der »Zeit«? Wie geht sie und wie gefällt sie?
Gern will ich Dir die Frankf. Ztg. schicken, wenn ich etwas darin habe. Aber ich habe kaum mehr etwas drin. Kann |mich nicht mehr zum Schreiben aufraffen. Es liegen Centnerlasten auf mir. Die Krankheit, die nicht heilen will – Ihr Ärzte seid nichts als menschenfreundliche Lügner – die Vereinsamung, die Heimatlosigkeit, das Gefühl des Zurückbleibens, die Verlotterung. Wie ich aus Ischl zurückkam, wollte ich eine Riesen-Anstrengung machen. Die ist mißlungen, und nun lasse ich mich sinken und leiste nur mehr wenig Widerstand. Ich lese nicht ein Mal mehr ein Buch zu Ende; und wenn die Reue kommt, sslüchte ich mich in Politik und Depeschen hinein.
|Den Brief an Frl. Sandrock habe ich endlich geschrieben. Es war keine Kleinigkeit. Ich sollte meine Ansicht über das Leben mittheilen. Das ist nicht leicht, wenn man viel zu thun hat. Ich habe ein idiotisches Zeug abgeschickt, mais enfin, ich habe geantwortet.
Ich möchte ein wenig wissen, wie Du lebst? Gesellschaft? Freundschast? Abenteuer?
Bahr hat mich neulich in sehr liebenswürdiger Weise citirt. Warum hat er das gethan?
Ich mache mir Vorwürse, daß ich Dich zum Abonnement auf das |»Journal« aufgefordert habe. Es wird niederträchtig schlecht. Vielleicht versuchst Du es fortan mit der Abendausgabe des »Journal des Débats«. Die politischen Artikel brauchst Du ja nicht zu lesen; aber es sind köstliche chroniqueurs darin, höhere literarische Leute: Hallays, Bazin, Filon, Lemaître etc. Willst Du, daß ichs Dir abonnire? Noch habe ich 30 Francs 30 ct., die Du beharrlich todtschweigst. Hat Richard den »Courrier Français« abonnirt? Sonsschicke ich ihn Dir. Anbei schicke ich Dir wieder ein paar Artikel, Kraut und Rüben durcheinander. Drumont ist ein großer |Polemist, nur stark irrsinnig. In Bezug auf Juden und Deutsche leidet er an Verfolgungswahn. Aber in ersterer Beziehung beginnt der Irrsinn doch erst nach einer weiten Grenze; Vieles Unglaubliche, was er über jüdische Corruption schreibt, ist wahr. Auch ist er größenwahnsinnig und kommt sich thatsächlich als gottgesandter Messias vor. Anderseits gibt ihm aber gerade nur dieser Wahnsinn die ungeheure Kraft, mit der er manchmal dreinschlägt.
|Sokal war bei mir; er gefällt mir gut. Scheint ein gescheiter und ernster Mensch zu sein. . . . 
Ich wünsche Dir von Herzen Glück zum neuen Jahr. Mir ahnt, daß das Jahr 1895 wichtig für Dich werden wird. Sieht es nicht vertrauenerweckend aus? Mit seiner runden Fünfheiten!
Was aber auch geschehen mag, Gutes oder Allerbestes, wir bleiben die Alten, nicht wahr?
Herzlichst und in Treue Dein
 Paul Goldmann.
|Bitte, empfiehl’ mich Deiner Frau Mutter und richte ihr meine ergebensten Neujahrs-Wünsche aus.
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