Theodor Herzl an Arthur Schnitzler, 8. 11. 1894

Dr Th. Herzl 8 November 894

Mein lieber Schnitzer!

Zu dieser Unternehmung brauche ich einen gentleman und Künstler. Ich habe an Sie gedacht. Die Sache ist folgende.
Ich habe ein neues Stück geschrieben – in einem Rausch, den Ihnen die Herstellungszeit sagen wird. Der erste Act wurde begonnen am 21 October der vierte, letzte beendigt am 8 November. Also siebzehn Tage. Ist's gut oder schlecht geworden – ich weiss es nicht. Wer weiss das?
Aber die Stimmung, die ich sonst während des Schreibens u. nachher immer hatte, ist stärker als jemals. Sie besteht darin, dass ich neben dem leidenschaftlichen Wunsch, mein Werk der Welt mitzutheilen den noch viel, viel leidenschaftlicheren habe, mich zu verbergen u. zu vergraben. Es ist Hochmuth, Feigheit oder Scham, oder was Sie wollen. Es ist so.
Im besonderen Fall dieses Stückes will ich meine Geschlechtstheile noch mehr verbergen, als irgendwann. Das Stück hat einen ganz besonderen Charakter, Sie werden es sehen, wenn Sie es lesen.
Ich will also nicht als Autor bekannt werden, wenigstens vorläufig u. durch einige Monate oder Jahre nicht. Und dazu brauche ich die Mithilfe |eines feuerfesten, wasserdichten Freundes, der mir sein förmliches Ehrenwort gibt, zu schweigen u. mit keiner Miene zu verrathen, was er weiss, bevor ich ihn ebenso förmlich des Ehrenwortes entlasse.
Wollen Sie das thun?
Ich muss Ihnen vorhersagen, dass es mit einiger Mühe für Sie verbunden sein wird. Wenn das Pseudonymat undurchdringlich bleiben soll, so muss ein ganzer Roman erfunden u. durchgeführt werden. Ich will einen sehr gewöhnlichen Namen als Pseudonym wählen, zum Beispiel Albert Schnabel. Dieser Albert Schnabel hat bisher in Wien gelebt und reist jetzt nach Italien, um Kunststudien zu treiben. Er reicht das Stück dem Deutschen Theater in Berlin ein – Postpacket in Wien aufgegeben – mit folgendem Begleitbrief: Die Direction wird ersucht, sich binnen vier Wochen über die Annahme zu entscheiden. Nimmt sie das Stück an, so hat die Aufführung innerhalb zweier Monate zu erfolgen. Der Vertrag ist dem bevollmächtigten Wiener Notar oder Advocaten X. Y. zuzusenden. Lehnt sie es ab, so wird sie gebeten es mit diesem Begleitbrief an das Lessingtheater  abzugeben. Dieses hat dieselben Bedingungen. Lehnt es auch ab, so geht das Stück ans Berliner dann aus Neue Theater. Will keins der |regulären Theater es spielen, so ists der Freien Bühne zu geben. Lehnt auch diese ab, so ist das Stück an den Advocaten oder Notar zurückzusenden. Dann wird es im Druck erscheinen.
In Wien wird es nicht eingereicht.
Was sagen Sie dazu?
Wenn Sie sich bereit erklären, mich zu unterstützen, bitte ich Sie auch mir einen Notar oder Advocaten zu nennen, zu dem Sie volles Vertrauen haben. Mit diesem werden Sie allein verkehren. Er wird nur Sie kennen und die Verrechnungen, die an ihn kommen an Sie abführen.
Auf diese Art erfährt Niemand, wer der Verfasser ist.
Das liebe ich sehr. Es ist auch nicht unpraktisch. Denn da ich den Einfluss, den ich aus der Zeitung ziehen könnte, nie für mich verwende (Beispiel die Glosse), ist es gleichgiltig ob mein Name auf dem Stück steht. Ja, wenn ein von mir gezeichnetes Stück irgendwo aufgeführt wird, glauben dennoch Viele, dass ich mir es »gerichtet« habe. Andererseits habe ich nicht mit Vorurtheilen, die sich |an meine frühere Production heften, zu kämpfen.
So ist dieser Entschluss nach vielen Richtungen hin überlegt. Es war mein Vergnügen während dieser glücklichen siebenzehn Tage, mir neben, unter u. über dem Stück diesen Verfasserroman auszuspinnen.
Vielleicht habe ich mich wieder geirrt? Die Glosse scheint ein solcher Irrthum gewesen zu sein, denn alle Theater wo sie bisher eingereicht worden, haben sie abgelehnt.
Fragezeichen.
Es ist möglicherweise dumm, dass ich die Canaillen der Theaterdirection nicht auf die gemeine Art der Anderen zwinge, mich zu spielen. Wäre ich überzeugt, dass meine Werke es werth sind, so würde ich aus einer höheren Künstlermoral heraus auch zu Mitteln greifen, die mich anwidern. Aber diese Ueberzeugung habe ich nicht – der Productionsrausch ist was Anderes – und ohne solche Ueberzeugung wär’s blos gemein.
Antworten Sie nur in recommandirtem Brief – und schweigen Sie mir über diesen, wenn Sie nicht mitthun wollen. Thun Sie aber mit, so habe ich ein Recht nicht nur auf Ihr Stillschweigen, sondern auch auf alle Ihre List und Vorsicht bis in die kleinsten Züge, damit das was nur Sie und ich wissen ein volles Geheimnis bleibe.
Herzlich Ihr
 Th. H.
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