|Raitz in Mähren,
5 Februar 1894.
Sehr geehrter Herr Doctor!
Sie werden nicht am be
sten von mir denken, weil ich Ihnen über die
Werke, welche Sie mir
so überaus freundlich und anerkennend ge
sendet, noch immer kein Wort ge
schrieben
hatte. Aber er
st hier, wohin ich mich aus dem hirn- und nervenzerrüttenden Trubel des
Wiener
Lebens vor vier Wochen zurückgerettet, war es mir möglich, die Bücher mit der
nöthigen Sammlung vorzunehmen. Und da muß ich Ihnen dann gleich
sagen, daß mir Ihr
»
Anatol«
ungemein gefallen hat. Das i
st ein hochintere
ssantes, gei
stvolles Buch, das
von großer Welt- und Weiberkenntniß zeugt. Fri
sch und flott, wie es ge
schrieben i
st,
gewährt es Einem beim Le
sen großen Genuß. Das »
Märchen« ist gewi
ssermaßen eine concentrierte Vertiefung der
Anatol-Themen und hat, da ich ähnliche Seelenqualen und
Conflicte in meinem Leben oft genug durchgemacht,
sehr
stark auf mich gewirkt. Daß es
sich auf der Bühne nicht halten konnte, daran i
st, meiner Meinung nach, nur der
Um
stand
schuld, daß Sie die Gestalt
Fannys nicht genug verdichtet, nicht genug herausgearbeitet haben. Ich
glaube, die modernen jungen Dramatiker
|schaden
sich
sehr, indem
sie gewi
ssermaßen unbedingt den Spuren
Ibsen’s folgen. Die
ser war es, der zuer
st den Monolog aus dem Drama
hinausgedrängt hat. Ich aber behaupte, daß der Monolog ab
solut nothwendig i
st – und
zwar als Moment – wenn auch nicht der Selb
sterkenntniß,
so doch der
Selbstbeobachtung, ohne welche kein Mensch (der die
sen
Namen bean
sprucht) jemals
sein wird und
sein kann. Würde
Fanny nur ein einziges Mal ihre Stellung zu
Denner in ern
ster
Selb
steinkehr überdacht, würde
sie ihr Ge
sicht geprüft – und das
selbe
wahr und echt vor ihrem Gewi
ssen
emp↓be↓funden haben; dann wären auch wir
überzeugt
und würden ihr Schick
sal als ein tragi
sches erkennen. So mü
ssen wir, wie
Denner, an Worte und
Betheuerungen glauben – oder nicht, glauben, wie er
selb
st. Die anderen Figuren
sind
ganz prächtig, und, wie ge
sagt, das
Stück hat mich, nicht blos
stellenwei
se,
sondern im Ganzen
ergriffen, wenn ich auch, was die Durchführung
betrifft, nicht immer mit dem Verfa
sser überein
stimmen konnte. Nach die
sen unter
allen Um
ständen
sehr hervorragenden Lei
stungen er
schien mir »
Alkandis Lied« weniger bedeutend, wiewohl es als ganz hüb
sche
Satire auf den Nachruhm gelten kann.