den 9. Januar 1900
Verehrter Herr Doctor!
Nach langer Zeit erlaube ich mir
heute wieder einmal Sie an mein
bescheidenes Vorhandensein zu erinnern und Ihr Urtheil über eine
Arbeit zu erbitten. Es ist wiederum ein
Stück, ein dreiactiges
Schauspiel, das ich Ihrer Kritik unterbreite, indem ich die leise Hoffnung hege, dass
dieses – mein letztes
Opus –
Ihnen nicht allzusehr missfallen dürfte.
|Ich kann es noch immer nicht verschmerzen, dass ich Ihnen – der Sie doch
seinerzeit einige Hoffnungen auf mein Talent setzten – fortwährend Enttäuschungen
bereitet habe und wenn ich auch ein Jahr lang von mir nichts habe hören lassen, so
dürfen Sie nicht glauben, dass mich Ihr abfälliges Utheil
über das letzte
Stück
abgeschreckt habe. Welches äußerliche Schicksal dieses
Schauspiel auch erleben möge – Sie bleiben
doch die Verkörperung meines beßeren, literarischen Ich – d. h. ich habe so eine
|dunkle Empfindung als ob ich Ihnen Rechenschaft schuldig wäre, über die
Verwaltung meines Talentes – .
Diese meine Ansicht ist ja vielleicht etwas zeitraubend für Sie – aber wenn etwas
Ersprießliches dabei herauskommen sollte, glaube ich doch, dass es Ihnen ein wenig
Spaß macht.
Beifolgende feingeäderte
Seelengeschichte zartester Structur dürfte Ihnen beweisen, dass ich mich
bemühe, nicht zu verflachen. Ob mein Bemühen auch
|Erfolg hatte – das
bitte ich Sie, mir zu sagen. Besonders der dritte Act liegt mir, am Herzen und ich
erwarte Ihr Urtheil über »
das erste Capitel«
mit unbeschreiblicher Spannung.
Seien Sie mir nicht böse über diesen neuerlichen Überfall und üben Sie – wie immer
–
strenges Recht.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Elsa Plessner