Arthur Schnitzler an Stefan Zweig, 2. 10. 1926

|Dr Arthur Schnitzler 2. 10. 1926.

Lieber und verehrter Herr Doktor.

Ich danke Ihnen sehr für Ihr neues Novellenbuch, das ich bei meiner Heimkehr vorgefunden habe. Mit stärkster innerer und äusserer Anteilnahme habe ich es gelesen. Die erste Novelle kannte ich schon, die Wirkung ist bei der zweiten Lektüre die gleiche ausserordentliche geblieben. Am merkwürdigsten ist wohl die dritte. Die Steigerung des epischen Stils an einzelnen in gewissem Sinn gefährlichen Stellen ins hymnische erkannte ich nach anfänglichem leisen Widerstand als die wahrscheinlich einzige künstlerische Möglichkeit das kühne Problem zu meistern. Beinahe noch fesselnder, unmittelbarer ans Herz greifend hebt die zweite Novelle an, aber mir ist, so glänzend auch diese Erzählung geführt ist, als hätte der Stoff – von einem gewissen Moment an, vielleicht schon von der Stelle, wo der Vater seine Tochter in dem fremden Hotelzimmer verschwinden sieht, noch ergiebigere Entwicklungsmöglichkeiten geboten als Sie ihm abgewonnen oder als Sie mit Absicht gewählt haben. Für mein Gefühl erklingt der Abgesang dieses väterlichen Schicksals zu früh. Aber das kommt vielleicht nur daher, weil von dem starken und originalen Anfang an die Ideenassoziationen des Lesers (und gar eines Lesers, in dem die Phantasie angeborener Weise und berufsmässig sozusagen auch Kunstwerken gegenüber, noch ehe er sie geduldig vom Beginn bis zum Ende in sich aufgenommen, frei und auf eigene Verantwortung zu schwingen anhebt) nach so vielen und verschiedenartigen |Richtungen gehen, und er nicht in die Notwendigkeit versetzt ist eine Entscheidung zu treffen, wäre es auch nur, um endgiltig seinem Stoff und seinen Gestalten zu entgehen. (Ich für meinen Teil war schon manchmal in der Versuchung einer oder der anderen meiner Novellen Varianten beizufügen. Ich glaube, dass solch ein Versuch auch künstlerisch sehr diskutabel wäre. Die inneren Notwendigkeiten eines Schicksals sind ja natürlich immer gegeben, aber die äusseren Notwendigkeiten (zu denen für die Hauptgestalt ja auch wieder die inneren Notwendigkeiten der Gegenspieler und sogar der Episodenfiguren gehören) stehen von vornherein keineswegs fest. »In unserer Brust sind unseres Schicksals Sterne«. Zweifellos. Aber es sind nicht diese Sterne allein, die unser Schicksal regieren.Das hat, wie Sie hoffentlich merken,nur eine Spitze gegen den lieben Gott und nicht gegen den ausgezeichneten Dichter der »Verwirrung der Gefühle«, den ich herzlich grüsse als sein aufrichtig ergebener
 [handschriftlich:] ArthurSchitzler
[maschinenschriftlich:] Herrn Dr. Stefan Zweig,
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