Dr Th. Herzl 16. XI. 92
Verehrtester Freund,
was aus Ihrem Briefe spricht,
ist das
Wiener Découragement.
Kenn ich. Es wird durch Ortsveränderung
geheilt.
Ein anderes ist das meinige.
Ich bin von mir abgekommen.
Das ist der Grund, warum ich
Ihrem so freundlichen Wunsch,
Ihnen etwas von mir zu schicken,
nicht entspreche. Ich kann diesen
Wunsch eben nur für eine
Freundlichkeit halten, und dass
ich bei einer gewissen Einsicht,
zu der ich herangealtert bin,
doch nicht so frei von Eitelkeit
bin, um das Gelesenwerden nur
|der Reciprocität verdanken zu
wollen, werden Sie begreiflich
finden.
Ja, mein lieber Schnitzler, es gibt
schon Leute, die um 10 oder
zwölf oder gar 15 Jahre jünger
sind als wir, und fertige
Künstler sind. Ich weiss ganz
wol, dass darin einige Melancholie
liegt. Aber wir wollen uns nur
freuen. Sie speciell sind wie die
jungen Mädchen, die erst spät
in die Gesellschaften gekommen sind.
Man sieht Ihnen Ihre 30 Jahre
nicht an – verstehen Sie es im
guten Sinn.
Wenn Sie mich, wie Sie im Sommer
schrieben, immer ein Stück Wegs
vor sich sahen – der Vorsprung
ist mit Müdigkeit bezahlt gewesen,
u. heute wie gesagt sitze |ich schon auf einem Stein
der Landstrasse u. lasse die
Anderen an mir vorüberkommen.
Leben Sie wohl! Schicken Sie
mir immer, was von Ihnen
herauskommt; ich interessere mich
aufrichtig dafür und habe mir
hier keine Gelegenheit, die neuen
deutschen Erscheinungen zu ohne
Beihilfe zu verfolgen, sonst würde
ich nicht warten, bis Sie mir
Ihre Werke schicken.
Sehr gern würde ich die Sachen
von
Hoffmannsthal kennen. Könnten
Sie mir sie nicht verschaffen? Ich habe nach dem
Gedicht von
Anatol den Eindruck: er lässt
sich blühen.
Herzliche Grüsse von Ihrem ergebenen
Th. H.