Theodor Herzl an Arthur Schnitzler, 10. 10. 1892

Dr Th. Herzl

Verehrtester Freund,

Sie müssen mich schon für sehr ungezogen gehalten haben, und ich war nur beschäftigt.
Besten Dank für die Uebersendung Ihres Buches. Ich wollte Ihnen erst schreiben, nachdem ich es ausgelesen hätte. Gestern hab ich es angefangen und bisher drei Stücke gelesen. Inzwischen ist mir der sybaritische Einfall gekommen, in den seltenen halben Stunden, wo ich zum Träumeln Zeit habe, immer nur eins Ihrer Stückchen zu lesen. So wart ich also nicht, bis ich zu Ende bin, um Ihnen zu danken.
Die erste Geschichte (Frage an das |Schicksal) finde ich sehr gelungen. Ich kannte sie schon – woher nur? Aus der Brünner Monatsschrift (die man Leichtes Tuch nennen könnte) oder anderswoher?
In der zweiten, die mir zu lang ausgesponnen scheint, erwartete ich eine andere weiberkundigere Pointe. Die Frau erfährt, dass das »Mädl« nichts Anderes auf der Welt hat, als den Anatol – darum nimmt sie ihr ihn weg. Heh?
Ich habe nicht Zeit genug, Ihnen alles Gute zu sagen, was ich über die dritte Episode denke.
Wer ist Loris? Auch Sie? Jedenfalls sind diese paar Verse zum Küssen. Schreiben Sie mir, wer Loris ist. Ergreifen Sie überhaupt Ihre gute Feder von Toledo und erzählen Sie mir, was Wien en l'an de grâce 1892 ist. Recht ausführlich, denn Sie haben Zeit, Sie vielleicht Glücklicher.
Ich grüsse Sie recht herzlich und ergeben Ihr
 Herzl
10/X 92
Erzählen Sie mir was es in Kunst u. Zeitung in Wien gibt. Ich kenne Alles nur aus den Journalen
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