Dr Th. Herzl 2. I. 93
Lieber Freund!
Wenn Sie nur keinen Neujahrsbrief geschrieben hätten – noch dazu wars ein sehr lieber
– würde ich mit der Antwort gewartet haben, bis ich Zeit gehabt hätte.
So will ich Ihnen heute nur in Eile danken und Ihre freundlichen Grüsse herzlich
erwiedern.
Meine Manuscripte! Ich habe sie vergessen. Von der Kunstübung ist mir nur etwas Liebe
zur Kunst geblieben u. an manchen Tagen oder in verlorenen Stunden ein Heimweh nach
der Dichtung. Nicht ungestraft ist
|man
Journalist. Ich bemühe mich, dieses Métier, das der reizende kleine
Hoffmannsthal verachtet, so unpanamistisch als möglich zu betreiben, und schaue der Politik zu.
Manchmal komme ich mir vor, wie
David Copperfield der
Stenograph – erinnern Sie sich der wonnevollen
Stelle? — u. manchmal halte ich mich für einen Staatsjuristen. Wirklich ist es in
dieser Zeit interessant, der Politik zuzuschauen. Ich glaube, es wird hier heuer eine
Revolution geben, u. wenn ich nicht rechtzeitig nach
Brüssel entkomme, werden sie mich vielleicht füsiliren, als Bourgeois oder
deutschen Spion oder
weiteren Juden, oder Financier –
während ich doch nur ein ausgedienter Seiltänzer bin.
Wenn ich Zeit hätte, glaub' ich,
|könnte
ich ein merkwürdiges Buch schreiben über das was ich in
Paris gesehen habe. Die politische Conclusion wäre: das Beste
für das Volk ist ein »bon tyran«, was ja
Renan gefunden hat. Ich erzähle das nicht
pour rompre les chiens – wenn ich die alte Kiste mit
den alten Manuscripten irgendwo finde, will ich Ihnen ein altes Stück schicken.
Ich grüsse Sie herzlich
Ihr Freund
Herzl