Theodor Herzl an Arthur Schnitzler, 2. 1. 1893

Dr Th. Herzl 2. I. 93

Lieber Freund!

Wenn Sie nur keinen Neujahrsbrief geschrieben hätten – noch dazu wars ein sehr lieber – würde ich mit der Antwort gewartet haben, bis ich Zeit gehabt hätte.
So will ich Ihnen heute nur in Eile danken und Ihre freundlichen Grüsse herzlich erwiedern.
Meine Manuscripte! Ich habe sie vergessen. Von der Kunstübung ist mir nur etwas Liebe zur Kunst geblieben u. an manchen Tagen oder in verlorenen Stunden ein Heimweh nach der Dichtung. Nicht ungestraft ist |man Journalist. Ich bemühe mich, dieses Métier, das der reizende kleine Hoffmannsthal verachtet, so unpanamistisch als möglich zu betreiben, und schaue der Politik zu. Manchmal komme ich mir vor, wie David Copperfield der Stenograph – erinnern Sie sich der wonnevollen Stelle? — u. manchmal halte ich mich für einen Staatsjuristen. Wirklich ist es in dieser Zeit interessant, der Politik zuzuschauen. Ich glaube, es wird hier heuer eine Revolution geben, u. wenn ich nicht rechtzeitig nach Brüssel entkomme, werden sie mich vielleicht füsiliren, als Bourgeois oder deutschen Spion oder Juden, oder Financier – während ich doch nur ein ausgedienter Seiltänzer bin.
Wenn ich Zeit hätte, glaub' ich, |könnte ich ein merkwürdiges Buch schreiben über das was ich in Paris gesehen habe. Die politische Conclusion wäre: das Beste für das Volk ist ein »bon tyran«, was ja Renan gefunden hat. Ich erzähle das nicht pour rompre les chiens – wenn ich die alte Kiste mit den alten Manuscripten irgendwo finde, will ich Ihnen ein altes Stück schicken.
Ich grüsse Sie herzlich
Ihr Freund
 Herzl
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