Theodor Herzl an Arthur Schnitzler, 15. 6. 1893

Dr Th. Herzl 15. Juni 893

Lieber Freund!

Mein drittes liebes Kind, ein Mäderl u. es heisst Greterl, ist schon bald vier Wochen alt. Meine Frau hat sich fast gänzlich erholt, u. wir denken an die Reise wenn nur nichts dazwischen kommt. Mein ältestes Mäderl ist seit gestern krank. Der Arzt sagte uns gestern Abends dass es vielleicht Masern werden. Heute meint er, dass es nicht dazu kommen würde. Aber sie fiebert noch stark.
Jedenfalls war die Nacht für uns schlaflos. Meine arme Frau sass auf einem Sessel. Ich hatte mir meinen Buben ins Schreibzimmer gelegt, um wenns noch nicht zu |spät wäre die Ansteckung zu verhindern. Der Kerl hat die ganze Nacht krakehlt, erst als ich ihm Prügel fest versprach, wurde er ruhig und sagte: Nit weinen, wieder lieb! – Er ist zwei Jahre alt.
Kinder sind immerwährend zugleich Freude u. Angst, u. aus beiden Gründen wird Einem durch sie das Leben lieb.
Auch in der Politik darf nichts dazwischen kommen, dann reisen wir am 26 ds. mit dem O. E. nach Wien. Ich möchte bevor wir nach Baden gehen einigemal in die Wiener Theater gehen. Ich weiss nicht mehr, wie sich der Lieutenant in den Backfisch verlieben kann u. umgekehrt. Gesteh’ ichs, ich sehne mich wieder nach der heimischen Imbecillität.
Mit dem Flüchtling ists sonderbar. |Mein erster Erfolg in Berlin. Als ich einige Tage später davon hörte, nahm ich das Buch vor, las es, war über die saloppe Sprache entsetzt; nur das, was die vornehmen Kritiker rügten, hat mich ergötzt: das Niesen des Eifersüchtigen. Es ist ein prächtiger Bühneneinfall, denn an der Stelle ist nicht mehr Zeit, auch nur mit einem Wort zu verhindern, dass die Zuschauer den  Streit für ernst halten, u. damit man die Angst der Margarethe, auf die es ankommt, beobachten könne, muss die Contrahage spassig sein.
Was sagen Sie, mit welcher désinvolture ich mich lobe? Deutlicher als alles sagt Ihnen dies, dass ich von einem Abgeschiedenen spreche.
Beurtheilen Sie die Aufführung des Flüchtlings nicht falsch. Sie braucht sie ebensowenig zu demüthigen, wie die Erfolge der gewöhnlichen Dutzendscribenten. Verstehen Sie |das Leben! Hier die Geschichte des Flüchtlings. 1887 wollte ich eine italienische Reise machen. Reisegeld gabs verflucht wenig. Groller (Illustrirte Zeitung) war charmant genug, mir damals zu sagen, ich solle, wie für die blaue Donau etwas Dramatisches für ihn schreiben. Gerade sauste mir der Ihnen bekannte Einfall dieses Einakters durch den Kopf. Hingesetzt u. hingeschleudert. Ich glaube in drei Tagen. Ich wollte schon abreisen. Nicht mehr deutlich weiss ich ob ich das Honorar vorgeschossen bekam. Ich vermuthe es, denn ich reiste ab u. schrieb mich dann bis Neapel durch. (Freilich hat mein guter Vater auch was hergegeben.) Dieser Schmarrn, den ich wie alle meine Stücke dem Burgtheater einreichte, wurde ich weiss nicht mehr warum – gewiss aus keinem literarischen Grunde – angenommen u. lag dann zwei Jahre. Förster wurde Director. Ich war bei der Allg. Ztg. Ich hatte |in der Redaction einen unangenehmen Collegen, einen boshaften Narren, der mich molestirte wo er konnte u. mit dem ich nicht einmal auf dem Grussfuss stand. Dieser schrieb eine hämische Notiz über Foersters Sohn. Förster glaubte, dass mein »Kamerad« mich Unaufgeführten rächen wollte u. setzte den Flüchtling erschrocken an. Sind das Komödien, was?
Noch besser die Berliner Geschichte des Flüchtlings. Sie wissen dass ich mit meinem Stück »Der Bernhardiner« –  nicht mein schlechtestes, was freilich nichts sagen will – am Berliner Theater einen der beschämendsten Durchfälle am »Berliner Theater« erlitt. Es war ein Lustspiel, das Barnay weil er eine Rolle für sich zurecht schneidern wollte als Schauspiel spielte.|Es war eine zu verstohlene Satire auf die Sentimentalität u. jene Halben, die sich vom qu' en dira-t-on leiten lassen. Alle Absichten wurden ins Gegentheil verkehrt, u. zw. unter meinen Augen. Ich war schwach genug zu allem Ja zu sagen, aber hauptsächlich war ich wirthschaftlich schwach. Ich brauchte die Aufführung.
Barnay wusste wohl, dass ich ihm geschrieben u. gesagt hatte, dass mein Stück »Was wird man sagen?« ein Lustspiel sei, u. dass ich es als solches gespielt wünsche. Er sah auch, wie tapfer u. schweigsam ich den ganzen Misserfolg allein trug, ohne zu maukezen. Ich hätte aus der Verhunzung meines Stückes immerhin ein Feuilleton herausfetzen können. Ich hatte aber nach der Niederlage die richtige Haltung | so wie ich sie vorher nicht hatte. Es wäre geschmacklos u. feig gewesen, die Schuld abzuwälzen.
Aber wenn mich ganz Berlin u. was dahinter steht – also alle deutschen Theater – für einen unfähigen Idioten tief unter nehmen wir an Triesch halten mussten, der eine Barnay kannte das Unrecht, das ich ruhig aushielt. Nun, er lehnte dennoch ein Stück ab, mit dem ich vielleicht meine Revanche hätte nehmen können, obwol seine Regisseure es zur Aufführung empfahlen: das unter dem schlechten Titel Prinzen aus Genieland im Carltheater von den PossenDarstellern wie ich glaube nicht umgebrachte Künstlerlustspiel.
Barnay gibt jetzt sein Theater auf. Er ordnet offenbar sein Haus bevor er wieder auf Reisen geht. Vielleicht findet er, dass man den Journalisten |nicht unversöhnt herumgehen lassen darf – u. gibt als letzte Novität seiner Direction mein Stückchen, ohne mich zu fragen.
Verstehen Sie das Leben, Freund! Ich habe Barnay für die Aufmerksamkeit nicht gedankt. Er ist davon wahrscheinlich sehr überrascht. Wie überrascht wäre er aber, wenn er wüsste dass ich Alles verziehen obschon nicht vergessen hatte. Und dass er er gerade durch den Fehler, den er begangen, vor dem Stahl meiner Feder immer sicher war. Diese Leute wissen nicht, dass wir Anderen die Zeitung nie für unsere Privatangelegenheiten verwenden.
Ja, ich könnte Ihnen viel erzählen, auch von der Lustspielconcurrenz und anderen Gemeinheiten des Deutschen Volkstheaters in Wien. Es hat lange gedauert, bis die Miserablen des |Theaters mich gebrochen haben. Sie hätten es nie zuwege gebracht, wenn ich mich nicht um sie gekümmert hätte, sondern geschrieben wie ich wollte, wie mirs zu Muthe und im Sinne war. Und ich sage Ihnen das, damit Sie aus meinem Falle lernen. Pfeifen Sie auf das Gesindel. Schreiben Sie nur, wie es Ihnen gefällt. Bei Ihrem Talent ist es, dann eine innere Nothwendigkeit, dass Sie auch eines nicht fernen Tages den äusseren Erfolg sehen. Aber werden Sie viel glücklicher sein, wenn man Sie vor die grosse Courtine des Burg oder Lessingtheaters treten lässt? Das ist ein Glück welches täglich so u. so viele Mätzchenmacher haben.
Auf Wiedersehen in Wien
Ihr Freund
 Th Herzl
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen dass alles, was in diesem Briefe steht nur für Sie allein geschrieben ist.
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