|Verehrter Freund,

hoffentlich ist alles bei Ihnen wohl und die Masern haben Ihre älteste verschont. Es wird also wohl nach Wien gefahren? – Wie gesagt, ich wiederhole meine Bitte, dass Sie mich irgendwie verständigen, wie lange Sie dableiben etc etc. – Es ist nicht unmöglich, daß ich Anfang Juli auf 10–14 Tage mit meiner armen Mama nach Ischl gehe; im übrigen wäre ein bissel Gebirgs|luft für mich nicht gerade überflüssig, da ich seit den qualvollen Aufregungen des Frühjahrs an einem großentheils nervösen Husten leide, den ich nicht anbringe. Im übrigen habe ich mich jetzt auf den Sport geworfen, u. fahre seit ein paar Tagen auf dem Bicycle. Ich schreibe diese Zeilen mit steifem Arm und steifem Bein – ist auch das letztere zu bemerken?–
|– Ihren Prinzen aus Genieland hab ich hier im Carltheater gesehen – wenn sie nicht ganz umgebracht worden sind, ssind nicht die Mörder, sondern die Prinzen selbst dran schuld gewesen; denn es ist im ganzen miserabel gespielt worden. Mir war dasStück sehr sympathisch; es lag wie ein Duft von 1840 drüber; es gehört vielleicht zu denjenigen Ihrer dramatischen Sachen, in |denen am meisten Frühling ist. Allerdings sind beträchtliche Ungleichheiten drin, und was mir am ärgerlichsten daran war, – so weit mich heut meine Erinnerg nicht täuscht, – war die zu pathetische u absichtliche Manier, in welchem plötzlich die Grundidee (im 3. Akt glaub ich) ausgesprochen wird, statt dass das ganze Stück im Fortschreiten selbst und in seinen |Charakteren jene Grundidee ausspricht. – Sehr deutlich ist mir eine treffliche Charge Knaacks im Gedächtnis. – Dann die hübsche kleinbürgerliche Scene im 2. Akt, in der eine Violine vorkommt. Dann die Liebesscene, die von Herrn Franker u Frl. Ernst gar nicht übel gegeben wurde. Unangenehm war der Oberprinz – Herr Lenor, der seine Rolle |mit einer schnodderigen Liebenswürdigkeit gab, welche mir im Ohr und im Herzen wehthat. Ich hätte damals den lebhaften Wunsch, das Stück wo anders zu sehen, u mit mir wünschten sich einige Vernünftige, dass das Lustspiel nicht am Volkstheater gegeben würde – resp. dß Sie’s nicht dem V.th. |eingereicht hatten. – Ihre Geschichten von Barnay, vom Flüchtling u. so w. haben mich interessirt u. gerührt. Jawohl gerührt – denn ich finde solche Abenteuer des Ehrgeizes und des Talents um der Ehrlichkeit rührender als hungrige Mägen und manches verliebte Idyll. – Vom Volkstheaterssen Sie mir erzählen.
|– Der Brief da trifft Sie, lieber Freund, wohl noch in Paris. Nehmen Sie noch mein Glückwunsch zumGretherl entgegen und bestellen Sie dieselbe auch Ihrer Frau Gemahlin, die sich vielleicht noch meiner erinnert.–
Also auf baldiges Wiedersehen,
Ihr herzlich ergebener
ArthSchnitzler
21. 6. 93.
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