|Wien, am
30. Dezember 1927
Hochverehrter Herr Doktor!
Wenn ich es unternehme, Ihnen für die Über
sendung Ihres
Buches der Sprüche und Bedenken meinen Dank zu
sagen,
so verführt
mich die alteingeflei
schte Gewohnheit meines Berufes, dem nicht leicht etwas ohne
Begründung ent
schlüpft, dazu, meinen Dank nicht etwa bloß zu äußern, sondern auch zu
begründen. Will ich aber Sätze einer Begründung formen,
so i
st es mir, als müßte ich
einen unüber
sehbaren Tatbe
stand in wenige Worte zu
sammenfa
ssen und leichthin
erledigen. Ein Einzelbild mag man nach einmaliger längerer Betrachtung
|kühn beurteilen; um aber zu einer
Bilder
sammlung, die viele Säle füllt, klare Stellung zu nehmen, bedarf’s wiederholter
Begehung und vergleichenden Hin- und Herwandelns. Und Ihr Buch i
st eine in klarer
Systematik zu
sammengefaßte Aneinanderreihung der we
sentlichen Ergebni
sse eines langen
und reichen Dichterlebens, dem nichts Men
schenerhebliches fremd blieb, der Abriß
Ihrer Lebensphilo
sophie, und zwi
schen den Ab
schnitten Ihrer Aphorismen eröffnen sich
Ausblicke, verlockend zu verbindender Gedankenarbeit. Wenn der Aphorismus, der in
der
Literatur das i
st, was die Blei
stift
skizze in der bildenden Kun
st, die redlich
ste Art
des Schrifttums i
st, weil er entgegen allen andern Arten, vom lyri
schen Gedicht bis
zum philo
sophi
schen Wälzer, keiner Lüge und keiner Maske Raum
läßt gibt,
|da
sich alles po
sieren läßt, Gefühl wie Erlebnis, Gründlichkeit wie Gewalt, nur
nicht der Gedanke
selb
st und
seine Form, und nirgends wie bei ihm jeder kleine Satz
den ganzen Autor zeigt: wie verehrungs- und liebenswürdig er
scheint der Autor dieser
Sprüche und Aphorismen, wie lebt
seine uns aus un
serer Jugend schon vertraute
Er
scheinung in jedem die
ser klaren Worte! Welche Erlebtheit, welche Liebe zur
Wahrheit und zur Form, welche Herr
schaft des Gei
stes und über alles Gei
stige
spricht
aus jedem Spruch!