Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 15. 5. 1928

15. Mai 1928.

Lieber und verehrter Herr Doktor!

Ich habe zwiefach zu danken und beide Male sehr herzlich: sowohl für Ihren lieben Brief, der mich unendlich erfreute, und Ihr Buch, das mich überrascht hat – Ihr Fleiss gerade in den letzten Werken wirkt auf uns Jüngere beschämend. Nichts selbstverständlicher, als dass ich sofort das Buch zur Hand nahm und Ihnen so heute mit dem Danke zugleich ungehemmt meinen Eindruck aussprechen darf.
Sie haben sich ein ungeheuer schweres Problem gestellt, denn nichts ist in der Kunst schwieriger und undankbarer darzustellen als das Negative, eine gewisse Monotonie des Glücks und des Unglücks, die Tragik der Hoffnungslosigkeit. Ich weiss es gerade jetzt, weil ich eine grössere Arbeit mitten im Werke aufgegeben habe, wo gleichfalls ein armer Lebenslauf geschildert werden wollte:  unwillkürlich dringt die Monotonie leicht in die Gestaltung, und für mein Empfinden manifestierte sich Rembrandt nie genialer als wie er die drei riesigen Bäume allein in die ungeheure (sonst kaum malerisch darstellbare) Ebene stellte. Der Stoff also, den Sie sich gewählt haben (oder vielmehr, der Sie gewählt hat: es wählt ja für uns) will mir nur scheinbar bewegt vorkommen. Es ereignet sich ein fortwährendes Wellenspiel von Geschehnissen und Veränderungen – ich aber spüre am grossartigsten und tragischesten darin die innere Hoffnungslosigkeit dieses Menschen. Ich weiss nicht, wieso es kommt, aber von der 50. Seite an wusste ich schon bei jedem Erlebnis, es würde nicht dauern, nicht Glück produzieren, es würde wieder enden an ebenderselben |furchtbaren Verbannung von aller Freudigkeit, in welche dieser Mensch hineingeboren ist. Sie konnten nicht wahrer sein, indem Sie aus Millionen eine solche Gestalt herausholten, und für mein Empfinden stellt sich diese Chronik endgiltig dar. Sie romantisiert nicht, sondern sie bleibt grausam nüchtern und erschreckend wahr. Erschreckend – dies Wort gilt nicht für mich, der das Tragische und am liebsten das geheim Tragische des Daseins in Büchern als höchste Tugend ehrt, wohl aber vielleicht für ein breiteres Publikum, das, weil selbst diese Monotonie unbewusst erlebend, im Geschriebenen wie auf der Leinwand immer eine Spannung sehen will, bewegte Schicksale, und das unbewusst Depressive dieser Gestalt als gênant empfinden wird – gênant für ihre Sorglosigkeit, für ihren Amüsierwillen, ihr Darüberhinwegwollen im eigenen Dasein. Sie haben es gewiss von Anfang gewusst, dass Sie hier einer Publikumsneigung im innersten entgegenwirken – die Menschen wollen immer nur Reichtum sehen, reiche Milieus, tropische Charaktere, rare und kuriose Erlebnisse – aber nichts ehrt Sie mehr, als dass Sie auf der Höhe Ihres Schaffens das Allerschwerste auf sich genommen haben, das dem Künstler vorbehalten ist: die arme Existenz zu schildern, die Tragödie der unzähligen Anonymen. Diese Menschen lesen nicht die Bücher in den ersten vier Wochen, insolange sie modern sind, sie kommen erst langsam an sie heran – dann aber werden Sie einzelne Dankbarkeiten erhalten, die Ihnen wirklich glückhaft sein müssen. Als Mann des Metiers muss ich ein wenig neugierig sein auf den Wiederhall im Kreise der Geistigen, ob diese das bewusst Heroische dieser Chronik wahrnehmen und würdigen können, das für uns Oesterreicher noch überdies besonderen dokumentarischen Wert hat. Das Gefährliche einer solchen Chronik im Gegensatz zu einem wirk|lichen Roman entgeht mir natürlich nicht, nämlich dass im Roman alle Gestalten auf Wiederkehr gestellt sind, also dramenhaft, während hier die meisten nur einmal episodisch auftreten und dadurch leichter dem Gedächtnisse verschatten – mir fliessen die einzelnen Familien der Lehrerin in der Erinnerung schon ein wenig zusammen, aber dies war nicht zu vermeiden, denn sie bedeuten ja nichts als Meilensteine, um den Weg zu messen. Sie wissen so viel von den Geheimnissen der epischen Prosa, dass Sie da mit Sparsamkeit gearbeitet haben, wo ein anderer in breiten Milieuschilderungen sich und die Leser erschöpft hätte, und ich glaube, dass die gewisse Silhouettenhaftigkeit der Nebenfiguren gegenüber der Prägnanz der Hauptgestalten Ihre rechte und richtige Einsicht war.
Lassen Sie sich nun ruhen auf solcher Leistung, die für uns Jüngere gleichzeitig eine Lehre bedeutet. Wie wunderbar, dass Sie aus solcher Fülle schöpfen können, und das selige Spiel des Erfindens sich Ihnen fast noch leichter als in den jugendlichen Jahren gewährt. Könnte dies Buch meine seit den Knabenjahren rein bewahrte Verehrung und Liebe noch erhöhen, so hätte es dies gewisslich in mir getan, aber vielleicht ist schon jene kristallene Festigkeit des Gefühls vorhanden, die durch ein gelungenes Werk nicht mehr gesteigert und durch ein misslungenes nicht mehr gemindert werden könnte. Seien Sie dieser meiner lautersten und in ihrer Unabänderlichkeit verlässlichen Gesinnung aufrichtig gewiss! Und erlauben Sie mir, das, wenn ich nächstens nach Wien komme, ich Ihnen noch glückwünschend die Hand reiche.
Treulichst Ihr
 [handschriftlich:] Stefan Zweig
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