den 12. Oktober 1900
Verehrter Herr Doctor!
Sie wünschen die chronologische Reihenfolge der Arbeiten zu wissen und indem Sie mir
eine Erwiderung auf meine Bemerkung über meine Entwickelung versprechen, kündigen
Sie mir – deutlich genug für mein zartes Verständnis – einen neuerlichen Putzer
an. –
Zuerst entspreche ich beiliegend Ihrem Wunsche und dann muss ich – zu Ihrer
Orientirung
vor dem Putzer – etwas weiter ausholen.
Sie finden also zuerst die merkwürdig Thatsache dass »
Baby« von allen die älteste Arbeit ist. Es ist mir sehr
verständlich, dass »
Baby« Ihnen nicht allzusehr
missfällt, denn es beweist neuerdings, dass das Wesensverwandte jeden Menschen
anzieht. Es ist ja auf 1000 Schritte sichtbar, dass diese
Geschich- |unter Ihrem
D directen Einfluss entstanden ist und – bitte um
Verzeihung für die Arroganz – Leo, der Held könnte ganz gut –
Anatol – heißen, was natürlich nichts
zu daran ändert, dass die
Geschichte selbstverständlich nicht im
entferntesten an Ihren »
Anatol« heranreicht.
Das heißt mit anderen Worten: »Ich hatte mich so in Ihr
Buch hereingelesen, dass ich auf einmal
Ihre Sprache sprach«. – Vielleicht interessiert Sie die Thatsache, dass »
Baby« zwei Tage nach dem Tod meines
Vaters entstanden ist. – Außerdem theile ich Ihnen im Vertrauen mit,
dass der Held dieser Geschichte eigentlich
Kainz ist, um dessen
Kind es sich vor fünf Jahren
nach dem Tod seiner ersten
Frau handelte. Ich habe die
Geschichte – die natürlich anders sich abspielte –
|direct von
Rosie Hutzler, seiner
Stieftochter erfahren. Die Mutter – ehemals Mitglied des »
Deutschen Theaters« – Fräulein
Ramacetta
ist in
Paris an einen
Baron verheirathet, der das etwa
zwölfjährige
Kind adoptirt
hat. – – –
Nach dieser kleinen Abschweifung in die chronique
scandaleuse
kehre ich zur Materie ↓dieser
Epistel↓ zurück. –
Das ganze Buch »
D. g. Käfig« hat keinen anderen
Zweck als den meiner im
Anfang December stattfindenden
Première zu präludieren und ein paar Talentproben in die Welt der
Premièrenbesucher zu schleudern, damit ich nicht ganz wie ein rother Hund behandelt
werde, wenn man gar nichts von mir weiß und kennt. Glauben Sie ja nicht, dass ich
mich irgend welchen Illusionen über den
|Wert des
Buches hingebe. Aber da ich meine
novellistische »Thätigkeit« seit 2 Jahren abgeschlossen habe – (»
Der neue
Lehrer« war das letzte) hat es mir Spaß gemacht, die besseren Arbeiten dieser
Sorte zu einem Debut zusammenzufassen. –
Ich muss Sie bitten mir zu glauben, dass ich mein Vertrauen
und meine nicht so offen in der Hand zu jedermanns Belieben herumtrage.
Aber da Sie sich kennen und Ihre Fähigkeit zu verstehen, werden Sie es begreiflich
finden, dass ich gerade bei Ihnen Verständnis suchte und noch suche, denn einen
Menschen muss man doch haben, bei dem man sich ausjammern kann, ohne dass er es
anders deutet. Das heißt mit kurzen Worten: Ich bin seit mehr als einem Jahr an einem
toten
|Punkt meiner Entwickelung angelangt, den ich nicht überwinden
kann. Seit dem »
ersten Capitel« habe ich außer
zu Briefen nicht die Feder in die Hand genommen und nicht eine Zeile schreiben
können. Ich würde mich wieder für »fertig« halten, wenn Sie mir das nicht seinerzeit
nach
Meran so nachdrücklich verwiesen hätten.
Aber eine so fürchterliche Zeit absoluter Leere und Unfähigkeit wie
dieses
Jahr habe ich noch nie durchgemacht und zu einer Zeit, wo mein brennender
äußerer Ehrgeiz
eigentlich zu seinem Rechte zu kommen
beginnt – bin ich eigentlich so sterbensunglücklich wie ein Mensch es nur sein
kann!
Vielleicht ist es das Warten auf die
Première,
das mich so lähmt – aber was mache ich, wenn die »
Ehrlosen«
|durchfallen, was doch immerhin möglich ist? Bei dem
absoluten Versagen aller meiner innerlichen Lebensmöglichkeiten sehe ich nichts
weiter vor mir, wenn auch mein äußerer Lebenszweck unerreichbar ist. Ich habe die
schönsten und wertvollsten Jahre meines Lebens vergehen lassen, ohne nach rechts und
links zu schauen wie andere Mädchen, habe mit Scheuklappen auf mein künstlerisches
Ziel hingearbeitet und im Gefühle einer gewissen inneren Kraft auf Manches
verzichtet, um mich nicht zu verzetteln und zu zersplittern – und wenn ich mir jetzt
vorstelle, dass das Alles umsonst war, könnte ich weinen um jeden Ball, auf dem ich
mir den Kopf zerbrochen habe um eine Arbeit, statt zu tanzen und mich – zu
amüsieren. – – Ich habe auf
|der ganzen Welt nichts, als meine
Arbeit – ob gut oder schlecht ist eigentlich egal. Aber wenn ich nicht einmal mehr
arbeiten kann – ?
Also wenn Sie jetzt noch vom↓n↓ Entwickelung in Bezug auf mich sprechen wollen, so können sie nur von der
Zeit sprechen, die weit hinter mir liegt! Zu dem Standpunkt der alten Arbeiten kann
ich nicht zurück und vor mir liegt kein Weg mehr. Außer Sie sehen weiter und mehr
als
ich selbst.
Das musste ich Ihnen noch vorher sagen und dass ich
Sie mit den Voraussetzungen bekannt machen musste,
aus denen Sie Ihre Schlüsse ziehen |können. Ich bin neugierig wie
dieselben ausfallen werden.
Herzlich und stets verehrend
Ihre
Elsa Plessner
und sonst keine Zeile.