Elsa Plessner an Arthur Schnitzler, 12. 10. 1900

den 12. Oktober 1900

Verehrter Herr Doctor!

Sie wünschen die chronologische Reihenfolge der Arbeiten zu wissen und indem Sie mir eine Erwiderung auf meine Bemerkung über meine Entwickelung versprechen, kündigen Sie mir – deutlich genug für mein zartes Verständnis – einen neuerlichen Putzer an. –
Zuerst entspreche ich beiliegend Ihrem Wunsche und dann muss ich – zu Ihrer Orientirung vor dem Putzer – etwas weiter ausholen. Sie finden also zuerst die merkwürdig Thatsache dass »Baby« von allen die älteste Arbeit ist. Es ist mir sehr verständlich, dass »Baby« Ihnen nicht allzusehr missfällt, denn es beweist neuerdings, dass das Wesensverwandte jeden Menschen anzieht. Es ist ja auf 1000 Schritte sichtbar, dass diese Geschich- |unter Ihrem directen Einfluss entstanden ist und – bitte um Verzeihung für die Arroganz – Leo, der Held könnte ganz gut – Anatol – heißen, was natürlich nichts daran ändert, dass die Geschichte selbstverständlich nicht im entferntesten an Ihren »Anatol« heranreicht.
Das heißt mit anderen Worten: »Ich hatte mich so in Ihr Buch hereingelesen, dass ich auf einmal Ihre Sprache sprach«. – Vielleicht interessiert Sie die Thatsache, dass »Baby« zwei Tage nach dem Tod meines Vaters entstanden ist. – Außerdem theile ich Ihnen im Vertrauen mit, dass der Held dieser Geschichte eigentlich Kainz ist, um dessen Kind es sich vor fünf Jahren nach dem Tod seiner ersten Frau handelte. Ich habe die Geschichte – die natürlich anders sich abspielte – |direct von Rosie Hutzler, seiner Stieftochter erfahren. Die Mutter – ehemals Mitglied des »Deutschen Theaters« – Fräulein Ramacetta ist in Paris an einen Baron verheirathet, der das etwa zwölfjährige Kind adoptirt hat. – – –
Nach dieser kleinen Abschweifung in die chronique scandaleuse kehre ich zur Materie dieser Epistel zurück. –
Das ganze Buch »D. g. Käfig« hat keinen anderen Zweck als den meiner im Anfang December stattfindenden Première zu präludieren und ein paar Talentproben in die Welt der Premièrenbesucher zu schleudern, damit ich nicht ganz wie ein rother Hund behandelt werde, wenn man gar nichts von mir weiß und kennt. Glauben Sie ja nicht, dass ich mich irgend welchen Illusionen über den |Wert des Buches hingebe. Aber da ich meine novellistische »Thätigkeit« seit 2 Jahren abgeschlossen habe – (»Der neue Lehrer« war das letzte) hat es mir Spaß gemacht, die besseren Arbeiten dieser Sorte zu einem Debut zusammenzufassen. –
Ich muss Sie bitten mir zu glauben, dass ich mein Vertrauen nicht so offen in der Hand zu jedermanns Belieben herumtrage. Aber da Sie sich kennen und Ihre Fähigkeit zu verstehen, werden Sie es begreiflich finden, dass ich gerade bei Ihnen Verständnis suchte und noch suche, denn einen Menschen muss man doch haben, bei dem man sich ausjammern kann, ohne dass er es anders deutet. Das heißt mit kurzen Worten: Ich bin seit mehr als einem Jahr an einem toten |Punkt meiner Entwickelung angelangt, den ich nicht überwinden kann. Seit dem »ersten Capitel« habe ich außer zu Briefen nicht die Feder in die Hand genommen und nicht eine Zeile schreiben können. Ich würde mich wieder für »fertig« halten, wenn Sie mir das nicht seinerzeit nach Meran so nachdrücklich verwiesen hätten. Aber eine so fürchterliche Zeit absoluter Leere und Unfähigkeit wie dieses Jahr habe ich noch nie durchgemacht und zu einer Zeit, wo mein brennender äußerer Ehrgeiz zu seinem Rechte zu kommen beginnt – bin ich eigentlich so sterbensunglücklich wie ein Mensch es nur sein kann!
Vielleicht ist es das Warten auf die Première, das mich so lähmt – aber was mache ich, wenn die »Ehrlosen« |durchfallen, was doch immerhin möglich ist? Bei dem absoluten Versagen aller meiner innerlichen Lebensmöglichkeiten sehe ich nichts weiter vor mir, wenn auch mein äußerer Lebenszweck unerreichbar ist. Ich habe die schönsten und wertvollsten Jahre meines Lebens vergehen lassen, ohne nach rechts und links zu schauen wie andere Mädchen, habe mit Scheuklappen auf mein künstlerisches Ziel hingearbeitet und im Gefühle einer gewissen inneren Kraft auf Manches verzichtet, um mich nicht zu verzetteln und zu zersplittern – und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass das Alles umsonst war, könnte ich weinen um jeden Ball, auf dem ich mir den Kopf zerbrochen habe um eine Arbeit, statt zu tanzen und mich – zu amüsieren. – – Ich habe auf |der ganzen Welt nichts, als meine Arbeit – ob gut oder schlecht ist eigentlich egal. Aber wenn ich nicht einmal mehr arbeiten kann – ?
Also wenn Sie jetzt noch von Entwickelung in Bezug auf mich sprechen wollen, so können sie nur von der Zeit sprechen, die weit hinter mir liegt! Zu dem Standpunkt der alten Arbeiten kann ich nicht zurück und vor mir liegt kein Weg mehr. Außer Sie sehen weiter und mehr als ich selbst.
Das musste ich Ihnen noch vorher sagen und Sie mit den Voraussetzungen bekannt machen, aus denen Sie Ihre Schlüsse ziehen |können. Ich bin neugierig wie dieselben ausfallen werden.
Herzlich und stets verehrend
Ihre
 Elsa Plessner
Baby                                       (September 95)
Begräbnistag (95
Selbstmörder 96
Im Feuer geprüft 96
Widerschein 96
Am Wege 96
Cassenchef 97 Meran
Ein Brief 97 Meran
Der gläserne Käfig 97 Meran
Meine Freundin Clotilde 97
Reminiscenz 97
Warten 98
Warum 98
Der neue Lehrer (Juli 98)
(Die Ehrlosen November 98)
(Das erste Capitel October 99)
und sonst keine Zeile.