Elsa Plessner an Arthur Schnitzler, 9. 1. 1916

Hochverehrter Herr Doctor!

Nach vierzehn Jahren geschieht es mir heute zum erstenmale wieder, dass ich Ihnen eine neue Arbeit vorzulegen habe, wirklich die erste und einzige seit ganzen vierzehn Jahren, während deren ich auch nicht eine Zeile geschrieben habe – – Briefe ausgenommen. – Ich habe in dieser Zeit nur ein bißchen gelebt und viel gesungen und nicht einmal mehr den Wunsch gefühlt, etwas niederzuschreiben. – Sie werden mich durchaus verändert finden und nur Ihr feines Gefühl wird die Linie nachziehen können, die vom »ersten Capitel« zu »Musik« führte. Diese Arbeit ist die Summe dessen, was ich leisten kann und zu sagen habe – bis heute, und mußte geschrieben werden. Diesmal wirklich das berühmte »Muss« – Daher weiß ich auch mit merkwürdiger Bestimmtheit, dass die Arbeit nicht vergebens war. Sowas fühlt man entweder – oder man fühlt es nicht. Sollte ich mich darüber dennoch täuschen, so ist für mich kein Verlass mehr auf irgend etwas in der Welt.
In dem Stück selbst habe ich zu bemerken, dass es mir damit seltsam ergangen ist. Zu Anfang stand ich auf festem Boden, beinahe etwas zu viel »terre a terre«. In der Hälften des zweiten Actes begann sich aber mit der Situation und Stimmung unwillkürlich der Ton des Ganzen zu verändern und zu heben – – und ich konnte mit der größten Mühe kaum den Vers zurückdrängen, der sich mir aufzwingen wollte. Ich sah mich plötzlich mitten in der Arbeit ganz unvermuthet vor ein Stilproblem gestellt, auf das ich nicht im Geringsten vorbereitet war – was gewiss die Anschauung bestätigt, dass |Frauenarbeit letzten Endes doch immer Improvisation bleibt – mag Sie vorher noch so gründlich durchdacht worden sein. Ich war gezwungen auf einer Linie weiterzugehen, die etwa die Resultirende zwischen Conversationsstück und Stildrama sein dürfte, und konnte mich dabei nur auf meinen Instinct verlassen. Daraus ist theilweise eine merkwürdige, hauptsächlich auf Rhythmus gestellte, Diction entstanden, auf Grund von mir allein fühlbaren musikalischen Gesetzen – und außerdem sehr beschränkt in der Wahl der Worte. Denn kein einziges Wort durfte mir unterlaufen, das in unserer Umgangssprache nicht gebräuchlich wäre. Sogar Arzt und Diener mussten sich in dieser Form ausdrücken können. Ich glaube, diese Diction ist neu – und ich hoffe, dass sie auch geglückt ist. – Sie werden ein Motiv in der Arbeit finden, das Sie selbst in der Stunde des Erkennens gestreift haben. Ich weiß, es ist unnötig, Ihnen zu versichern, dass ich mich nicht an Ihrem Eigenthum vergriffen habe, denn die Grundlagen meiner Arbeit stehen schon lange fest. Auch glaube ich, dass Sie, verehrter Herr Doctor, der ein wenig von meinem Leben weiß, sich selbst sagen können, auf welchem Wege auch ich zu diesem Motiv gelangen konnte. – – – –
Das ganze Stück handelt von Musik – hörbarer und blos fühlbarer, und ist in Aufbau, Melodik und Klangfarbe irgendwie nach den Gesetzen der Musik entstanden. Die harte unbarmherzige Lösung hat mich selbst furchtbar erschreckt, als sie nur zuerst aufging. Später wusste ich, dass sie die einzig folgerichtige und gerechte sei. Die Sünde gegen den heiligen Geist ist die unverzeihliche. –
Mehr will ich Ihnen für heute nicht sagen. Sie werden mich ohnedies schon für übergeschnappt halten – oder für bodenlos unverschämt. Ich hoffe nicht, dass ich das bin. |Was ich aber bin, verehrter Herr Doctor, brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen – – – maßlos gespannt, Ihre Meinung über meine Arbeit zu erfahren, die ich von Ihnen mit Rechte einer alten Gewohnheit schlankweg erwarte. Frech, nicht wahr? – –  Wenn Sie noch so gütig sind, wie vor vierzehn Jahren – und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln – – so werden Sie mich nur so lange darauf warten lassen, als unbedingt nöthig ist. Schließlich noch die kleine Bemerkung, dass Sie, wie vor langer Zeit, auch jetzt wieder der Erste sind, dem meine neue Arbeit vorliegt. Jung gewohnt – alt gethan. Das »alt« bitte cum grano salis. –
Wollen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin bestens empfehlen und selber von mir die Versicherung dankbarster Verehrung entgegennehmen.
 Else Ginsberg-Plessner
P. S. Der Gegenstand meines letzten Briefes hat sich von selbst erledigt, da Sie nicht nach München kamen. Ich hoffe, dass dies die alleinige Ursache davon war, dass mein Brief – falls Sie ihn überhaupt erhalten haben – unbeantwortet geblieben ist. – Oder waren Sie gar bös auf mich? – – –