Arthur Schnitzler an Stefan Zweig, 27. 11. 1914

|Dr. Arthur Schnitzler 27. 11. 1914.

Lieber Herr Doktor.

Beifolgend die Berichtigung oder Erklärung oder wie Sie es nennen wollen. Ich wünschte gern zu wissen, 1., ob Sie im Ganzen damit einverstanden sind, 2. ob Sie eine Veröffentlichung von Seite 4 an für notwendig und opportun hielten. Haben Sie nichts einzuwenden, so senden Sie freundlichst unserer Verabredung gemäss das Ganze mit meinen verehrungsvollen Grüssen an Rolland. Was in dieser Angelegenheit anderswo und eventuell hier geschehen könnte oder sollte, möchte ich doch gerne persönlich oder wenigstens telefonisch mit Ihnen besprechen. Vielleicht schreiben Sie mir ein Wort, wann man Sie in den nächsten Tagen anrufen darf. Wie telefoniert man denn an den Regierungsrat Winternitz; ich habe mich bisher noch nicht an ihn gewandt.
|Zu Ihrer militärischen Verwendung kann man Ihnen gratulieren, glaube ich. Sie werden Interessanteres und wahrscheinlich sogar Authentischeres erfahren als die Leute an der Front. Der Baron Winterstein hat uns neulich allerlei Anregendes erzählt; wir hätten Sie gern dabei gehabt.
Herzlichst grüssend
Ihr
 [handschriftlich:] Arthur Schnitzler
[maschinenschriftlich:] Beiliegend zwei Exemplare.
|Wie ich durch Freunde in Russland auf einem Umweg erfahre, sind in Petersburger Blättern angebliche Aeusserungen von mir über Tolstoi, Maeterlinck, Anatole France, Shakespeare von so phantastischer Unsinnigkeit veröffentlicht worden, dass sie mir zu normalen Zeiten von niemanden, der mich kennt, zugetraut würden, die aber in unserer vom Uebermass des Hasses und vom Wahnsinn der Lüge verwirrten Welt immerhin auch sonst urteilsfähigen Menschen nicht unglaubhaft erscheinen könnten.
Solche Verhetzungsversuche, wie sie weit hinter den Fronten der ehrlich kämpfenden Armeen im wohlgedeckten Gelände unverantwortlicher Publizistik von den Marodeuren des Patriotismus gefahrlos unternommen werden, scheinen ja eine besondere, und vielleicht die widerwärtigste, Eigentümlichkeit dieses Krieges zu bedeuten; auch der lächerlichste dieser Ver|suche, wenn er gelingt, könnte späteren Verständigungen zwischen Einzelnen Schwierigkeiten bereiten; daher schiene es mir ein Fehler, gerade diesen (etwa um seiner besonderen Albernheit willen) auf sich beruhen zu lassen.
Der Wortlaut der mir zugeschriebenen Aeusserungen ist mir noch nicht bekannt; ihr Sinn, und die Tatsache der Veröffentlichung aber steht unbezweifelbar fest. Da es unter den gegenwärtigen Verhältnissen lange dauern kann, ehe ich in den Besitz des Originalartikels gelange, muss ich mich auf die Erklärung beschränken, dass Aeusserungen der Art, wie sie in jener Publikation offenbar mitgeteilt sind, von meiner Seite selbstverständlich niemals gefallen sind; – und – im Vertrauen auf eine auch während des Weltkrieges weiterdauernde Giltigkeit internationaler journalistischer Anstandsgesetze – erwarte ich von |der Loyalität derjenigen Zeitungen, die jenem erdichteten Bericht Raum gegönnt haben – auch von solchen, die (um in der Sprache der Politik zu reden) im Feindesland erscheinen – dass sie sich auch zur Aufnahme meiner Richtigstellung verpflichtet finden werden.
 
|Nach Niederschrift dieser Zeilen finde ich in der New-Yorkerstaats-Zeitung einen Privatbrief abgedruckt, den ich vor mehreren Wochen an einen in New-York lebenden Freund gerichtet habe oder vielmehr gerichtet haben soll. Denn in dem von der New-Yorker-Staats-Zeitung veröffentlichten Brief ist (offenbar in bester redaktioneller Absicht zur Erhöhung einer populären Wirkung auf das deutsch-amerikanische Publikum) kaum mehr ein Satz gleichlautend mit dem entsprechenden Satz des Originals; manche Sätze sind völlig ausgefallen, andere hinzuerfunden, so dass zwischen den beiden Briefen, meinem eigenen und dem in der New-Yorker-Staatszeitung abgedruckten, an manchen Stellen, auch dem Sinne nach, nur mehr eine ganz enfernte Aehnlichkeit besteht.
Diesen, an sich gewiss ziemlich gleichgültigen Fall, möchte ich immerhin zum Anlasse nehmen, um ganz im Allgemeinen und |nach allen Seiten hin vor raschgläubiger Hinnahme auch solcher Veröffentlichungen zu warnen, die durch irgend ein bestechendes äusseres Zeichen der Echtheit (als welche wohl die mit Anrede, Gruss und Unterschrift versehene Form eines Privatbriefes gelten kann) den Charakter absoluter Worttreue vorzutäuschen suchen. Es ist in solcher Zeit nicht leicht zu entscheiden, wo man vertrauen und wo man misstrauen soll; nicht nur Urteilsfähigkeit, sondern auch Verantwortungsgefühl scheinen manchmal auch dort geschwunden, wo wir sie noch vor kurzem als etwas Unverlierbares betrachtet hätten; – also seien wir in Glauben und Zweifel, Ihr Freunde und Ihr Feinde, gleich vorsichtig gegenüber Feind und Freund!
[handschriftlich:]  Arthur Schnitzler
[maschinenschriftlich:] Im November 1914.
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