|Wien, 17. Nov. 94.

Lieber Freund!

Mit Ihrem Stück haben Sie dem Theater ein neues Milieu entdeckt und haben eine Reihe von Gestalten geschaffen, die Athem des Lebens haben. Und neue Gestalten – manche, an die man sich bis jetzt nicht herangetraut hat. Die besten Figuren sind die, die aus sich herausreden, ganz naiv; – da haben Sie mit ein paar Strichen glänzend gezeichnet; Charlotte z. B. – Wassermann ist ausgezeichnet; der ist wohl berufen, Ihnen häufig nachge|dichtet zu werden. Dieses aber verfällt gegen Schluss in den Fehler Ihrer Hauptperson; – er erläutert sich. Sie unterschätzen Ihre Charakterisirungskunst – man kennt Herrn Wassermann längst, bevor er anfängt von sich zu erzählen. Ueber das Stück als ganzes ist etwas ähnliches zu sagen. Es hat soviel echtes Leben und ist in seiner Entwicklung so natürlich, dass Sie auf kleine Absichtlichkeiten der Ausführung wohl verzichten dürften, welche die große Absicht des Stoffes verwirren|Am meisten hab ich in diesem Sinne gegen den Schlußsatz des Stücks einzuwenden, den eigentlichen Schlusssatz, den der sterbende Jacob Samuel zu sprechen hat. Lassen Sie ihn lieber wortlos sterben – dieser Tod sagt mehr besseres, ich glaube selbst, was ganz andres als der Sterbende selbst. Der Sterbende sagt: »Juden, Brüder, man wird euch erst wieder leben lassen, wenn ihr zu sterben wisst.« – Sein Tod aber spricht: Dieser arme Teufel und edle Mensch mussich von einem erbärmlichen |Haderlumpen einfach deshalb niederschießen lassen – weil er als Jud geboren ist! – – Es gab eine Zeit, wo die Juden zu tausenden auf den Scheiterhaufen verbrannt wurden. Sie haben zu sterben gewußt. Und man hat sie nicht leben lassen – deswegen. – So fährt Ihr Drama, nachdem es sicher u. schön seinen Weg hingebraust ist, – auf einem falschen Geleise ein. –
– Eine Figur wäre event. noch in das Stück hineinzustellen, die als Gegenspieler wirksam wäre: ein jüdischer Couleur|student, der nach 30. Mensuren chassirt wird, weil er ein Jude ist. – Eventuell noch ein anderer Student, der dem kathol. Gesellenverein angehört und sich aus »Katholizismus« nicht schlägt – und daher sehr verehrt wird! – Und noch eine Figur scheint mir in dem reichen Bild zu fehlen, das Sie von einer gewissen jüd. Gesellschaft entwerfen. – D. i. eine sympathische Frau (oder Mädel) Gibt es nemlich auch. Oder es wäre wenigstens |zu zeigen, wie ein ursprünglich gut veranlagtes Mädel durch Hellmannische Erziehung verkommt. Ließe sich vielleicht gar nicht sschwer an Hermine zeigen, die scharf aber doch ein bischen outrirt gezeichnet ist. Man begreift gar nicht, dass ein so hochstehender Mensch wie Jacob ihn heiratet. Das wäre dann gleich motivirt, wenn die guten Züge noch an ihr zu entdecken wären.
– Ganz meisterhaft sind die |alten Samuel. Nun redet die Frau ein bischen zu gewollt, im 1. Akt besonders. Wurzlechner verstehe ich nicht ganz. Ich glaub, in Ihrem Streben nach Objectivität haben Sie ihn geradezu sympathisch zu machen versucht. Aber, glauben Sie mir, er ist ein ganz ordinairer Kerl. Geben Sie ihm wenigstens stärkere Motive, wenn er von Jacob Abschied nimmt. Oder lassen Sie diese Infamie schon im ersten Akt vermuthen. Oder: Jacob|selbst merkt, dass dem Wurzlechner sein Verkehr mit den Juden in der Carrière von ihm, schadet u. er legt es ihm nahe, zu scheiden. Oder – was mir am liebsten wäre. Jacob schmeißt den Kerl wie er sich windet und dreht, einfach hinaus. Als Secundant empfehle ich dann für das Duell mit Schramm den neu zu schaffenden Studenten mit den 30 Mensuren. (Er könnte der Neffe dieses köstlichen Wassermann sein.) –
| – Als zufällige Beispiele für die früher erwähnten kleinen Absichtlichkeiten der Ausführung: –
Seite 1. Köchin: Halt Juden. Die Juden haben alles Geld. »Sind halt Juden« – sagt dasselbe; wirkt stärker. (das Entrée Bichlers behagt mir nicht sehr)
Seite 60. Jacob: Jetzt kannst du das auch auffassen, dss die Juden Hunde sind – Hier ist die Absicht deutlich – bis zur Verstimmung. – »Auch der Jude mit dem wunden Ehrgefühl« |will mir nicht gefallen – geben Sie Ihrem Jacob etwas mehr innere Freiheit. Der Grundgedanke leidet nicht darunter, und die Person wird uns sympathischer. Glauben Sie nicht? Und hier sah ich es wieder: Die Figur des Kraftjuden fehlt mir geradezu in Ihrem Stück. Es ist ja nicht wahr, dass in dem Ghetto, das Sie meinen, alle Juden gedrückt oder innerlich schäbig herumlaufen. Es gibt|andre – und gerade die werden von den Antisemiten am tiefsten gehasst. Etwas in der Art müßte auch in dem Stück gesagt werden. IhrStück ist kühn, – ich möchte es auch trotzig haben. Und vor allem lassen die Ihren Helden nicht so ergeben sterben. Ich hab es schon anfangs gesagt – jetzt fällt es mir wieder ein – Sie sehn, wie ernst es mir damit ist! –
| Bühnenwirksamkeit – soweit das vorher zu sagen ist – muss Ihr Stück haben – ob ein Theater den Muth haben wird, es aufzuführen –? – Doch davon kann später gesprochen werden. Ich freue mich das Stück (welches Sie doch aufrichtig ein »Trauerspiel« nennen sollten), sehr bald wieder zu lesen, und wenn Sie finden sollten, dass von den paar Bemerkungen, die ich mir erlaubt habe, einige der Ueberlegung werth sind, so werde ich das viel|leicht in der nächsten Abschrift zu erkennen im Stande sein. Mein herzliches Vergnügen, nach langen Jahren wieder einmal ein »Originalmanuscript« von Ihnen durchlesen zu dürfen, kann ich Ihnen nicht verschweigen.
Seien Sie vielmals gegrüßt und bedankt.
Stets der Ihre
ArthurSchnitzler
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