Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 13. 1. 1911

13. 1. 11.

Lieber Freund,

Die Übersendung der Kopien meiner Briefe habe ich mit einiger Sorge erwartet. Denn in jener Zeit, in der diese Angelegenheit spielt, war mir die Freundschaft mit Dir viel, bildete sie eines der großen Besitztümer meines Lebens. Und ich fragte mich, ehe ich die Kopien erhielt: sollte ich nicht vielleicht, in der Sorge, dieses Freundschafts-Besitztum vor jeder Gehahr zu behüten, mich schwach gezeigt haben?
Als ich die Copien las, war ich starr vor Staunen. Das also waren |die »Beweisstücke« gegen mich! Dies die Dokumente gegen meine Ehre! Denn es ist Dir sicherlich nicht klar geworden, daß es sich in alledem um meine Ehre handelt, – daß Du meine Ehre angreifst, indem Du mich als einen Menschen hinstellst, der heimlich lobt u. öffentlich tadelt, der in seinen Briefen dem Freunde schmeichelt u. ihn dann öffentlich – noch dazu, wie Du weißt, mit einem besonderen Vergnügen – herunterreißt.
Das also waren die Dokumente! Ich las die Briefe u. fand, daß ich darin mit aller Deutlichkeit starke Bedenken gegen Dein Werk formulirt hatte, – mit aller Deutlichkeit für Jedermann außer für |den durch Größengefühl und Selbstgefälligkeit jeden Urteils beraubten Autor. Jeder ruhig u. objektiv Urteilende wird auch finden, daß meine spätere öffentliche Kritik nichts ist als die Ausführung der in den Briefen bereits kurz formulirten Bedenken. Jeder ruhig u. objektiv Urteilende wird weiter finden, daß in diesen Briefen ein Freund dem Freunde die Wahrheit sagt, daß der Freund aber gleichzeitig bestrebt ist, dem Freunde nicht wehzutun, u. daß er darum, damit der Tadel, den er auszusprechen sich genötigt sieht, nur ja nicht verletze verletze, das Lob, das er spenden kann, in möglichsstarken Ausdrücken formulirt. |Die großen Fehler, unter denen, meiner Ansicht nach, Dein Stück leidet, sind in meinen Briefen klar gekennzeichnet. Du hast darüber hinweggelesen u. von meinen Briefen nur behalten, daß ich Dich mit Grillparzer verglichen habe. Das ist bezeichnend – aber nicht für mich, sondern für Dich.
Und von dieser Kritik wagst Du zu behaupten, daß sie Dein Werk verreißt, während meine Briefe es gelobt haben? Ich muß noch die Einschränkung machen, daß die lobenden Ausdrücke in meinen Briefen stärker klingen, als in der Kritik. Einen Grund dafür – das Bestreben des Freundes, mit möglichst viel |Lob den Tadel, den er ausspricht, weniger empfindlich zu machen – habe ich schon angeführt. Ein anderer Grund ist der, daß man in einem Privatbrief seine Ausdrücke nicht so vorsichtig abwägt, wie man dies tut, wenn man in der Ausübung seines kritischen Berufes, in dem Bewußtsein, daß man für jedes Wort die volle Verantwortung zu übernehmen hat, öffentlich sich äußert. Entsteht aus diesem Grunde ein Widerspruch zwischen Privatbriefen des Kritikers u. der von ihm |veröffentlichten Kritik, so trifft die Verantwortung nicht den Kritiker, sondern den, der es versucht, dessen Privatbriefe gegen ihn auszuspielen.
Im Übrigen aber habe ich angesichts der Briefkopien u. der Kritik, die beide hier vor mir liegen, mit aller Entschiedenheit zu erklären: Die Briefe loben nicht nur das Stücksondern sie sprechen auch bereits die Einwendungen aus, die, meiner Ansicht nach, dagegen zu erheben sind. Die Kritik tadelt nicht nur das Stücksondern |läßt ihm auch alle jene Anerkennung zuteil werden, die es, meiner Ansicht nach, verdient. Es besteht höchstens in der Nuance einiger Ausdrücke, aber im Wesen kein Widerspruch zwischen den Briefen u. der Kritik. Und den Vorwurf, den Du gegen mich erhoben hast, daß ich als Freund wie als Kritiker meine Pflicht gegen Dich vergessen habe, weise ich mit Entrüstung zurück. . . . . 
Ich komme jetzt zum |zweiten Fall, dem Fall der »Lebendigen Stunden«. Hier liegen leider keine Dokumente vor, keine Briefe, von denen Du Kopien hättest machen können. Hier handelt es sich um mündliche Äußerungen, die ich getan haben soll. Würden sie im genauen, beglaubigten Wortlaut vorliegen, so würden sich die »Widersprüche« zwischen diesen Äußerungen u. meiner später veröffentlichten Kritik wahrscheinlich ebenso aufklären, wie im Falle der »Beatrice«. |Möglicherweise habe ich auch hier Einwendungen formulirt, über die Du hinweggehört hast, wie Du über die gegen die »Beatrice« in meinen Briefen hinweggelesen hast. Ich habe nicht einmal meine Kritik über die »Lebendigen Stunden« zur Hand u. kann daher nicht konstatiren, ob sie wirklich so ohne jede Einschränkung tadelnd war, wie Du behauptest. Denn ich habe diese Besprechung in die Sammlungen meiner Kritiken nicht aufgenommen. Warum nicht? Weil ich mir damals sagte: die Kritik zu schreiben, war meine Pflicht; |sie in mein Buch aufzunehmen, bin ich nicht verpflichtet; u. ich habe sie nicht aufgenommen, aus Rücksicht auf den Freund, über dessen Werk sie ungünstig urteilte. In einem eigentümlichen Lichte erscheint mir heut diese Rücksicht auf den Freund, der Briefe von mir, in denen ich redlich bestrebt war, ein herzliches freundschaftliches Empfinden mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, heranzieht, um damit meine Charakterlosigkleit zu beweisen!
Es fehlen mir also für den Fall der »Lebendigen Stunden« |alle Dokumente u. ich bin auf mein Gedächtnis angewiesen. Dieses Gedächtnis sagt mir, daß ich mich, nach der Vorlesung im Walde zu Welsberg, über die Stücke lobend geäußert habe. Als ich sie dann auf der Bühne sah u. ihre Schwächen klar erkannte, habe ich dem Ausdruck gegeben. Mein kritisches Gewissen fühlt sich durch diesen »Widerspruch« nicht im mindesten belastet. Denn Stücke sind nicht dazu da, im Walde vorgelesen, sondern aufgeführt zu werden; u. jedes vor der Aufführung abgegebene |Urteil über ein Stück kann immer nur ein Urteil mit Vorbehalt sein. Wenn ich nach der Aufführung über die »Lebendigen Stunden« ungünstig geurteilt haben würde u. die Stücke wären doch gut, hätte ich als Kritiker gefehlt. Da ich die Stücke aber nach wie vor nicht für gut halte (von manchen Qualitäten abgesehen, welche die ersten haben, u. abgesehen auch von dem sehr hübschen Einakter »Literatur«), da überdies ihr geringer Erfolg auf der Bühne das in meiner Besprechung ausgesprochene Urteil bestätigt, |bin ich als Kritiker sicher nicht im Unrecht; u. ich finde, daß es eine Lächerlichkeit ist, gegen das öffentlich abgegebene Urteil eines Kritikers, das er genau u. sachlich begründet hat, Äußerungen ausspielen zu wollen, die er nach einer Vorlesung im Walde getan hat.
Ich habe mein Gedächtnis weiter angestrengt u. kann mich an die Äußerung, die ich außerdem getan haben soll, daß ich nämlich bedaure, nicht selbssolche Stücke schreiben zu können, nicht mehr erinnern. Aber ich will nicht in Abrede stellen, sie getan zu haben. |Warum sollte ich auch nicht von Stücken, die mir gefielen, gesagt haben, daß ich bedaure, sie nicht auch schreiben zu können? Wenn aber weiter behauptet wird, ich hätte gesagt, ich möchte mich »erschießen«, weil ich Solches nicht leisten kann, so erkläre ich dies für eine Unwahrheit. Ich weiß, daß ich das nicht gesagt haben kann u. auch nicht gesagt habe, weil ich weiß, daß ich mich nicht mit weibischem Schwulst |auszudrücken pflege, sondern die Gewohnheit habe, zu reden, wie ein Mann. . . . . . . 
Lieber Freund, Du hast mir auch bei unserem letzten Beisammensein wieder jede Fähigkeit zum Kritiker abgesprochen. Diese Deine Ansicht über mich ist mir seit Langem bekannt. Sie ist für mich gewiß nicht belanglos. Denn ich habe nicht die Selbstsicherheit, die Du besitzest u. die Dich zu dem Ausspuch veranlaßt, daß es |Dir gleichgiltig ist, was »wir Andern« über Dich schreiben. Mir ist es gar nicht gleichgiltig, was die Andern über mich schreiben oder sagen. Wohl habe ich künstlerische Anschauungen, von deren Richtigkeit ich unerschütterlich überzeugt bin. Aber ich prüfe jedes noch so ungünstige Urteil über mich, ob es nicht vielleicht doch etwas Wahres enthält, u. suche von jedem Andern, auch vom heftigsten Gegner, etwas zu lernen. Man muß schon ein mit Erfolg aufgeführter dramatischer Autor sein, |um das Bewußtsein mit sich herumzutragen, daß man von Anderen nichts mehr zu lernen habe. Bei ernsstrebenden Menschen in anderen Berufsarten wird man dieses Bewußtsein kaum wiederfinden.
Mir ist es nicht gleichgiltig, was die Andern von mir sagen, – u. ganz gewiß nicht gleichgiltig, was ein alter Freund von mir denkt. Aber mit Deiner Mißbilligung meiner Wirksamkeit als Kritiker habe ich mich längst abgefunden. Ich habe mir gesagt, daß Dein u. mein Lebensweg so weit auseinandergegangen sind, |daß Deine u. meine Entwickelung eine so gänzlich verschiedene Richtung eingeschlagen haben, daß Du mich eben nicht mehr verstehst u. verstehen kannst. Du siehst ja auch all’ das, worüber ich als Kritiker zu urteilen habe, von einem ganz anderen Standpunkt an, als ich. Du bisselbst beteiligt, bisselbst Partei. Meine künstlerischen Überzeugungen haben mich dazu geführt, Stellung gegen die meisten der dramatischen Autoren unserer Generation, Stellung sogar gegen manches Deiner Werke zu nehmen. |Wie darf ich da von Dir erwarten oder gar beanspruchen, daß Du meine kritische Tätigkeit billigst!
Ich habe es Dir also niemals verargt, daß Du mich für einen schlechten Kritiker hältst. Ich habe allerdings, wenn ich mit Dir sprach u. von Dir so manche Anschauung hörte, die ich für falsch halten muß, im Stillen Gott gedankt, daß ich nicht ein Kritiker geworden bin, den Du für gut halten würdest.
|Deine Urteile über meine kritische Tätigkeit haben mich also nie von Dir abgestoßen; u. ich war fest entschlossen, trotz alledem eine Freundschaft zu erhalten, die nun schon mehr als zwanzig Jahre alt ist u. von der, ssehr wir auch innerlich entfremdet sind, doch ein enormes u. herzliches Gefühl für Dich bei mir zurückgeblieben ist. 
Nun aber hast Du in unserer letzten Unterredung im Hause Deiner Mutter in Deinen Angriffen gegen mich eine Grenze überschritten, die Du |nicht überschreiten durftest. Von meinen Fähigkeiten als Kritiker darfst Du sagen, was Du willst. In dieser Unterredung aber hast Du es versucht, meine Ehre anzutasten. Und diesen Versuch muß ich mit der äußersten Schärfe zurückweisen. Selbst eine zwanzigjährige Freundschaft gibt Dir nicht das Recht zu einer Sprache, die Du in jener Unterredung Dir herausgenommen hast, gegen mich zu führen. Das kann u. werde ich nicht |dulden! Und es ist unerhört, es ist eine der bittersten Erfahrungen meines Lebens, daß ich, nachdem ich in einem schweren Lebenskampfe meine Ehre rein u. flankenlos erhalten habe, mich nun gegen den ältesten u. mir einst nächsten Freund zur Wehr setzen muß, der meine Ehre beflecken will. An jener Unterredung, in der Du über mich, der ich als Gast im Hause Deiner Mutter weilte, | hergefallen bist, wie über einen charakterlosen Lumpen, denke ich zurück mit einer Mischung von Scham, Widerwillen u. Empörung; u. ich konnte nicht Ruhe finden, ehe ich Dir diesen Brief geschrieben, um Deine Anwürfe von mir abzuschütteln, – selbst auf die Gefahr hin, daß dieser Brief den Bruch unserer zwanzigjährigen Freundschaft herbeiführen sollte.
|Mit herzlichem Gruß
Dein
 Paul Goldmann.
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