Theodor Herzl an Arthur Schnitzler, 13. 11. 1894

|Paris 8 November 894

Mein lieber Schnitzer!

Ich habe gar nicht daran gezweifelt, dass Sie mit mir gehen werden. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Bereitwilligkeit. Es bleibt also bei dem neulich Entwickelten. Sie sind und bleiben bis auf meinen Widerruf der Einzige, der Albert Schnabels Geheimniss kennt. Auch von meiner Familie weiss gar Niemand davon. Frauen können nicht schweigen, u. ein Geheimniss darf höchstens auf vier Augen stehen.
Ich gebe Ihnen keinerlei Detailwünsche zur Wahrung des Geheimnisses bekannt: dass Sie fortab alle meine Briefe unter Verschluss halten etc. Niemand erfährt wer Albert Schnabel ist, auch der Notar nicht, dem ich auf Ihre Worte hin übrigens mein ganzes Vertrauen zuwende. Natürlich nehmen Sie ihm das schriftliche Ehrenwort ab, dass er auch Sie Niemandem nennt, denn dann käme man allmälig auf die Spur. Dieses Rallye-Paper auf einen anonymen Autor habe ich mit den Wilddieben durchgemacht – theils belustigt, theils geärgert. Belustigt, als mich meine Freunde angriffen oder meine Feinde lobten – die Wiener allg. Ztg. bei der ich damals war brachte die schärfsten Angriffe etc. – Dem Notar werden Sie bei Vertragsschlüssen Winke aus Ihrer Bühnenerfahrung geben – |Sie haben ja auch schon welche, mein lieber Freund – und werden in vorsichtigem Verkehr mit ihm bleiben. Er muss auch schlau schweigen.
Zunächst will ich also Ihre Meinung über Albert Schnabels 4 actiges Schauspiel »Das Ghetto« hören. In diesem besonderen Falle haben Sie mir mit aller Brutalität die Wahrheit zu sagen. Finden Sie es schlecht – heraus damit! Ich vertrage einen Puff. Dieses Pseudonymat ist ja für mich der Kugelpanzer. Schon lebe ich in der Schnabelschen Fiction, u. weder Lob noch Tadel wird mich daraus vertreiben. Mein Gedanke ist 4 – 5 Stücke in 4 – 5 Jahren auf diese Weise zu publiciren – u. mich während der Zeit als Journalist verachten oder von Reclamehubern im Arsch lecken zu lassen.
Zum Stück habe ich nur zu bemerken, dass ich Ihnen den premier jet geschickt. So ist es ganz fertig. Es fehlt nur eine Scene, die ich aus Fachwerken construiren muss. Der Inhalt ist bestimmt und für Sie kurz hineingedeutet. Flüchtig gemacht ist nur eine Stelle im 2 Art: der Samuelische Grundsatz, den ich natürlich auch in eine definitive u. kürzere als die jetzige Form bringen werde.
Sonst hängen nur ganz kleine Fetzen, die abzuschleifen ich bei der Reinschrift Gelegenheit nehme. Diese Reinschrift habe ich noch nicht gemacht, weil ich auch auf Ihre Bedenken Rücksicht nehmen will. Das mache |ich dann alles zusammen. Ich bitte Sie also mir das Manuscript gleich nachdem Sie damit fertig sind, begleitet von einem ausführlichen u. männlich rücksichtslosen Gutachten zurückzuschicken. Adresse:
Monsieur Théodore Herzl
Paris, poste restante au Bureau 37
Und zwar als recommandirten Brief, wie es meine Sendung war.
Wichtigere u. recommandirte Sendungen werde ich immer unter dieser Adresse von Ihnen erwarten. Sie sehen, Sie werden mit mir Mühe haben. Eine solche Sendung müssen Sie mir immer in einem gewöhnlichen Brief anzeigen in Worten, die nur ich verstehe: »Heute habe ich an Albert geschrieben«, wird für mich die Formel sein dass im Bureau 37 ein Brief erliegt.
Diese Uebervorsicht ist nöthig, denn bei den Wilddieben ist das Geheimniss durch meine Familie ausgeplaudert worden. Schrieben Sie nur recommandirt an meine Domicil-Adresse, so hätte ich bei meiner Frau unzählige Verhöre zu bestehen. Das würde mich auf die Dauer sehr nervös machen.
Mittheilungen, die leicht unter Anspielungen versteckt werden können, schreiben Sie |mir nur in gewöhnlichen Briefen. Die müssen so gefasst sein, dass Sie auch verloren gehen können. Ich werde mich nicht dabei aufhalten, einem Schreibkünstler Anleitungen für unseren Geheimschlüssel zu geben.
Was Ihre Besorgnisse wegen der Theaterdirectoren betrifft, die theile ich nicht. Ja, wenn ich zu den Patronen betteln ginge, würden Sie mich nicht anhören. Ich werde Sie aber von vornherein an die Wand drücken. Das darf ich als Mitglied einer einflussreichen Zeitung nicht thun – es sähe wie Erpressung aus – aber Albert Schnabel, der Unbekannte, kann das in aller Reinheit und Schroffheit thun. Auch dazu ist mein Pseudonym gut. Ich werde zwei Tage nach Absendung des Manuscripts folgenden Brief an den ersten Director (zur Weitergabe schicken). »An die Directoren der unten benannten Bühnen. Der Verfasser reicht sein Werk dem ersten, dann dem zweiten etc. ein. Verschiedene Gründe können den einen oder anderen Director verhindern, es aufzunehmen. Dann soll er es weitergeben. Der später drankommt, möge sich erinnern, dass viele Werke, die später Erfolg hatten, zuerst zurückgewiesen wurden, und es ohne Vorurtheil lesen. Nimmt es keiner an, so wird es veröffentlicht, mit diesem Brief |und mit den Namen der Directoren, die es ablehnten. In einer unbegreiflichen Gutmüthigkeit oder Schamhaftigkeit verschwiegen bisher die Bühnendichter ihre Ablehnungen. Der Verfasser möchte darin etwas Neues einführen: die Verantwortlichkeit der Theaterleiter. Wer ein Stück abdehnt, soll dafür einstehen. Der Gerechte und von literarischen Rücksichten Geleitete hat das nicht zu fürchten. Aber auch die Irrthümer der Bühnenleiter sollen bekannt werden: Das verspricht schätzbares Material. Das Publicum wird erfahren, was abgelehnt worden, nachdem es schon wusste, was gespielt wird.
Der Verfasser«
Und so werd' ich das durchführen, bis ans Ende, mein lieber Freund. Zum Schluss wird das Stück gedruckt – aber ich glaube, es wird sich eine Bühne dafür finden. Ich weiss nicht, ob es ein gutes Stück ist - aber ich fühle, dass es ein nothwendiges ist. Was sagen Sie?
Herzlich Ihr ergebener
 Th. H.
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