|4. 3. 1929.
Liebe und verehrte Freundin.
Sie teilen mir mit, dass
Antoine die Absicht
hegt, meine Szenenreihe »
Reigen« aufzuführen und
die Frage der Inszenierung einigermassen schwierig findet. Mir persönlich scheint
diese Frage keineswegs schwer lösbar. Ganz klar ist, dass man über die
Gedankenstriche nicht anders hinwegkommen kann, als durch eine möglichst kurze Pause,
ob diese nun durch Vorhang, Schleier oder Verdunkelung symbolisiert und zugleich
verwirklicht wird. Verdunkelung, wenn vollkommen möglich, scheint mir immer noch das
Beste. Man vergesse doch nicht, wie oft schon bei szenischen Aufführungen und selbst
bei solchen von klassischen Stücken der psychologische oder besser
psychophysiologische Moment, der dem Zuschauer natürlicherweise vorenthalten werden
muss, durch Fallen des Vorhangs oder Verdunkelung gekennzeichnet wurde, ohne dass
es
den geringsten Anstoss erregte. Der »
Reigen« war
in dieser Hinsicht keineswegs etwas Neues und die zehnfache Wiederkehr ändert nichts
an dem Wesentlichen der Sache. Wir wissen ja Alle, dass der Widerstand gegen den »
Reigen«, insbesondere der gegen die Aufführungen
des »
Reigen«, keineswegs aus reinen oder
reinlichen Motiven erfolgt ist und dass die alberne, brutale und verlogene Hetze in
hohem Maasse durch parteipolitische Motive bedingt war, die anderswo als in
Deutschland und
Oesterreich a priori wegfallen müssten. Wer sich über die Gründe,
insbesondere aber über die Technik dieser »
Reigen«-Hetze gründlich informieren, dabei ein Stück Kulturgeschichte kennen
lernen und sich nebstbei vorzüglich amüsieren will, dem kann ich nur raten das Buch
»
Der Kampf um den Reigen« zu lesen, der das
stenographische Protokoll eines im Jahre
1921 stattgefundenen
sechstätigen Prozesses gegen
Direktion und
Darsteller des
Kleinen
Schauspielhauses in
Berlin enthält
(herausgegeben vom Staats
|minister a. D.
Wolfgang Heine, erschienen bei
Rowohlt) und nebstbei auch Gutachten führender Männer über
das Werk bringt. Ich meine, dass sittliche Bedenken gegen eine Aufführung des
Werkes an einem künstlerisch
geleiteten Theater heute überhaupt nicht mehr obwalten können und dass insbesondere
im Laufe der letzten Jahre Dutzende von Theaterstücken aller Art auch an
hervorragenden Bühnen in Szene gegangen sind, denen gegenüber der Vorwurf der
Frivolität Obszönität, Immoralität (wenn man sich überhaupt mit Vorwürfen dieser Art
innerhalb der Kunst ernsthaft auseinandersetzen will) hundertmal mehr gerechtfertigt
gewesen wären, als gerade gegenüber dem »
Reigen«. Dies im allgemeinen. Selbstverständlich bietet der »
Reigen«, wie am Ende jedes Stück, ausser der allgemeinen
Frage der Bühnenmöglichkeit noch spezielle Probleme der Inszenierung, die aber meiner
Ansicht nach nur in gemeinsamer Besprechung mit dem Regisseur und Dekorateur,
keineswegs durch theoretische Erörterungen zu lösen wären. Schwierigkeiten sehe ich
nirgends. Trotzdem aber möchte ich nicht verhehlen, dass mir persönlich eine
Aufführung des »
Reigen« in
Paris erst dann recht willkommen wäre, wenn man vorher eines
meiner anderen Dramen zur Aufführung gebracht hätte, das nicht von vornherein
törichten oder böswilligen Missverständnissen ausgesetzt sein könnte. Dieser Gefahr
läge ja meiner Ansicht nach überhaupt nicht vor, wenn nicht gerade dem »
Reigen« jener ungerechtfertigte Ruf der Kühnheit
oder Unsittlichkeit vorherginge und wenn ich in
Frankreich heute schon bekannter, oder sagen wir populärer wäre, als ich es
bin. Dies sind praktische Erwägungen, nichts weiter, die ich natürlich auch
Antoine gegenüber nicht verschweigen wollte,
(dem ich schon für meine ersten, recht weit zurückliegenden Erfolge in Paris zu so
herzlichem
|Dank verpflichtet bin); dass ich im übrigen
durchaus in der Lage bin jede Verantwortung für die Erlaubnis zu einer öffentlichen
Aufführung des »
Reigen« auf mich zu nehmen, wenn
eine solche unter der Patronanz eines Theatermanns von Weltruf, wie
Antoine, stattfindet, brauche ich nicht erst zu
versichern.
Ich werde Ihnen dankbar sein, verehrteste Freundin, wenn Sie anlässlich einer
neuerlichen Begegnung mit
Antoine ihn von
diesem meinen Standpunkt in Kenntnis setzen und ihm zugleich meine herzlichen Grüssen
bestellen wollten.
Frau Hofrätin Bertha Zuckerkandl,
Wien.