Sigmund Freud an Arthur Schnitzler, 14. 5. 1912

|14. 5. 12
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.

Verehrter Herr College

Gestatten Sie mir, die obige Anrede durch die Berufung auf Ihr rite erworbenes Doktordiplom der Medizin zu rechtfertigen und dann mich unter die vielen Glückwünschenden zu mengen, die Ihren 50sten Geburtstag feiern wollen.
Es ist mehr als ein Akt der Revanche von meiner Seite. Ich glaube mich zu erinnern, daß ich in der Antwort auf Ihre liebenswürdige Zuschrift bei analogem Anlaße vor 6 Jahren ausgeführt habe, wie sehr ich immer Ihrer Teilnahme und Ihres Verständnißes bei meinen Arbeiten sicher gewesen bin, obwol ich niemals in die Lage gekommen bin, ein Wort mit Ihnen zu wechseln. Ebenso, habe ich mich immer zu denen gerechnet, die Ihre schönen und ernsten poetischen Schöpfungen in ganz besonderem Maße verstehen und genießen können. Ja, ich habe mir eingebildet, daß ein Reflex der thörichten und frevelhaften Gering|schätzung, welche die Menschen heute für die Erotik bereit halten, auch auf Ihr Wirken gefallen sei, und daß Sie mir darum besonders wert sein dürften.
Lachen Sie nicht darüber, daß ich so in die Lage komme, die feiernde Mitwelt an diesem Tage bei Ihnen zu verschwärzen – oder besser, lachen Sie nur darüber und denken Sie daß keiner von uns von seinen »Komplexen« frei kommt, wie meine Freunde sagen.
Zum Schluße aber – ich weiß nicht, ob Sie dieses Trostes bedürfen – lassen Sie sich sagen, daß der Dichter später altert als gewöhnliche Menschenkinder, und daß nach dem Dichter noch der Denker herauskommt.
Mit herzlichen Glückwünschen
Ihr ergebener
 Freud
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